Die Kinder von Estorea 02 - Der magische Bann
neue Stimme zu hören, weit entfernt, vielleicht auf Deck. Darauf verstummten alle anderen. Jemand rannte über die Planken, dann polterten Stiefel die Treppe herab.
Die Aufgestiegenen und Kovan waren viel zu verängstigt, um etwas zu sagen, und lauschten angestrengt, ob sie einen Hinweis bekämen. Gleichzeitig griffen die Aufgestiegenen mit ihren Gedanken hinaus und forschten in den Energiebahnen der Luft nach einer Erklärung.
»Da kommen Lebewesen«, erklärte Gorian.
»Über oder unter dem Meer? Ich erkenne es nicht genau«, sagte Mirron.
»Über dem Meer. Es dürften wohl andere Schiffe sein.«
»Was tun wir jetzt?«, fragte Ossacer.
»Abwarten«, entschied Kovan. »Patonia muss uns beschützen, und die Mannschaft wird nicht meutern. Nicht gegen sie. Allerdings mache ich mir Sorgen, wer da gekommen ist. Die Stille gefällt mir nicht.«
»Wer könnte es nur sein?«, fragte Ossacer.
Auf Deck brach jetzt hektische Betriebsamkeit aus. Es klang, als würde das Segel gerefft, und dann ertönte auch das unverkennbare Rumpeln, als die Ruder eingezogen wurden.
»Wer es auch ist, er will vorbeikommen und Guten Tag sagen«, meinte Ossacer im Versuch, einen Scherz zu machen. »Haben wir hier draußen denn Freunde?«
Sogar Gorian musste kichern. »Nur wenn die Delfine gelernt haben, auf einem Schiff zu segeln.«
Das Lachen war viel zu laut, und Kovan befahl ihnen sofort wieder zu schweigen. In der Ferne waren jetzt fremde Stimmen zu hören. Mit einem Knall wurde ein Laufsteg angelegt. Wieder trampelten Füße. Entschlossen und geordnet dieses Mal, und es waren viele. Arducius lief es eiskalt den Rücken herunter. Die Erkenntnis lähmte ihn und machte ihn völlig hilflos. Beinahe jedenfalls.
»Macht euch bereit«, sagte Kovan zu Gorian. »Ihr alle. Es tut mir leid, aber es sieht übel aus. Es könnte der Orden sein.«
»Dann haben sie uns verraten, was?«, wollte Arducius wissen.
Kovan nickte. »Die Leute meines Vaters.«
Schritte näherten sich, schwere Stiefel polterten über das Holz. Der Türgriff drehte sich, dann ging die Tür auf. Geduckt trat ein Mann ein. Er war groß, sehr groß.
»Sieh an, sieh an«, sagte er. »Die neue Waffe der Konkordanz. Das ist aber ein glücklicher Zufall. Ich habe Arbeit für euch.«
Arducius wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte.
Es war der Schatzkanzler Jhered.
7
848. Zyklus Gottes, 1. Tag des Solasaus
15. Jahr des wahren Aufstiegs
V on ihrem Platz am Kopfende des langen ovalen Tischs blickte Herine Del Aglios lange durch das große Bogenfenster im Beratungszimmer des Palasts. Auf den Hügeln oberhalb der Stadt brannten die Wachfeuer. Es war der schlimmste Augenblick ihres Lebens gewesen, als sie fünfzehn Tage zuvor befohlen hatte, sie zu entfachen. Sie würden brennen, bis die Bedrohung der Konkordanz beseitigt war.
Oder bis zu deren Untergang.
Die Wachfeuer waren seit dreihundert Jahren nicht mehr entfacht worden. Nicht mehr, seit Estorea das letzte Mal einer tödlichen Gefahr ausgesetzt gewesen war. Dass sich dies ausgerechnet in ihrer Amtszeit wiederholte, war eine Schande, die sie niemals überwinden würde. Es belastete sie sehr.
In der ganzen Konkordanz, von Dornos im Norden bis zum kleinen Easthale im Süden und bis nach Bahkir und Tundarra im Westen würden die Feuer Angst, Verwirrung und sogar Panik auslösen. Sie bedeuteten, dass eine Invasion bevorstand und die Bürger der Konkordanz zu den Waffen gerufen wurden.
In allen Winkeln des Landes verließen die Heere ihre Garnisonen und bewegten sich zu den Sammelpunkten. Sie konnten nicht ahnen, was ihnen bevorstand. Die Befehle waren mit Brieftauben und über den Botendienst der Konkordanz übermittelt worden, sobald in Estorr das erste Wachfeuer entfacht worden war. Einige Botschaften waren sicher noch nicht angekommen. In diesem Augenblick konnte Herine nichts weiter tun als beten, dass sie die richtigen Entscheidungen getroffen hatte, und dass die Marschälle, Konsuln, Prätoren, Ädilen und Generäle, auf die sie sich jetzt verlassen musste, ihre Befehle auch ausführten.
Früher hatte sie einmal darüber gescherzt, dass ihre Befehlshaber vermutlich in den tiefsten Kisten wühlen und uralten Staub wegpusten mussten, falls sie jemals gezwungen waren, die Befehle für den Ernstfall hervorzuholen. Niemand hatte darüber gelacht, und jetzt kamen ihr die eigenen Worte vor wie beißender Spott. Es war keineswegs sicher, dass die Wachfeuer tatsächlich in allen Ländern angezündet wurden.
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