Die Klingen der Rose: Jenseits des Horizonts (German Edition)
verfluchte Thalia die mongolische Gastfreundlichkeit.
Da sie schlecht nur mit einem Handtuch bekleidet hinausgehen konnte, griff sich Thalia rasch ein Del und Hosen von der Kleiderkiste. Sie passten ihr nicht besonders gut, denn Thalia war deutlich größer als Oyuun, aber für den Moment genügte es.
»Fertig«, sagte Thalia und versuchte, fröhlich und gelassen zu klingen. »Sie können sich jetzt umdrehen.«
Und Gabriel drehte sich langsam um. Er blickte überallhin, nur nicht zu ihr. Er schluckte schwer. Dann wandte er ihr seinen Blick zu, sog lautstark die Luft ein und zog die Augen zusammen. Er wirkte ziemlich gefährlich. Mit angespanntem Kiefer warf er Jackett und Weste von sich. Thalia verstand ihn nicht. Schließlich war sie angezogen. Doch als sie an sich herabsah, begriff sie, dass sie sich in der Eile nicht richtig abgetrocknet hatte. Unter den feuchten Kleidern zeichnete sich jede Körperrundung ab; es war anzüglicher, als wäre sie nackt gewesen. Ach zum Teufel.
»Thalia«, knurrte Gabriel.
»Ja?«, quiekte sie.
»Geh hinaus.«
Thalia ergriff ihre Stiefel und rannte aus dem Ger , obwohl sie sich mit jeder Faser ihres Körpers danach sehnte zu bleiben.
Das Leben in der Steppe war hart. Die Sommer kurz und trocken, die Winter lang und quälend. Und es drohte Zud , der gefährliche Frost, weshalb man die Feste in vollen Zügen genoss. Für den Stamm symbolisierte das Fest vor dem Nadaam des Rubins zugleich den Abschied von der warmen Jahreszeit. Der Herbst ging schnell in den Winter über, und die grünen Weiden verschwanden monatelang unter kühlen weißen Decken. Der blaue Himmel darüber gefror, und die Sonne verströmte eisiges Licht.
In dem Fest- Ger war es heiß. In dem riesigen Zelt, das man mit Gabriels Hilfe extra für das Fest errichtet hatte, herrschte trotz seiner Größe Gedränge. Lachen und Musik hingen ebenso in der Luft wie der Geruch von Pfeifenrauch, gegrilltem Hammel und das Aroma von Arkhi . Ein starkes Getränk, das unablässig serviert wurde, die Wangen rot färbte und schüchterne Männer zu Helden werden ließ. Einige Hundert Menschen drängten sich in dem riesigen Zelt. Es ging zünftig und laut zu, so ganz anders als bei einer vornehmen Tanzveranstaltung oder einem ruhigen Nachmittagstee.
Zu Hause, dachte Thalia, als sie das Zelt betrat. Sie konnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben. Als sie sich durch die Menge schob, sich geschickt an warmen Körpern vorbeischlängelte und fröhlich Grüße tauschte, empfand sie eine überwältigende Zuneigung zu den Nomaden. Diese Menschen akzeptierten sie mehr als ihre eigenen sogenannten Landsleute. Sie musste die Mongolen, ihre Welt und diesen Ort unbedingt vor den Erben schützen. Sie würden die Mongolei in ein Stück England verwandeln – mit Konditoreien, englischsprachigen Zeitungen, die von den neuesten britischen Erfolgen berichteten, sowie Gehröcken und Turnüren anstelle von Dels . Dabei würden sie alles Schöne und Einzigartige zerstören.
»Bist du aufgeregt wegen morgen?«, fragte Oyuun, als sie neben Thalia trat.
»Überhaupt nicht«, erwiderte Thalia. Mit einem reumütigen Lachen stellte Thalia fest, dass sie so damit beschäftigt gewesen war, im Geiste die Erben zu besiegen, dass sie überhaupt nicht in Betracht gezogen hatte, das Nadaam zu verlieren.
»Ich verrate dir ein Geheimnis«, sagte Oyuun und hielt die Hand schützend vor ihren Mund. Thalia beugte sich näher zu ihr, und Oyuun flüsterte: »Ich hoffe, dass du gewinnst.«
»Warum?«
»Weil niemand glaubt, dass eine Frau einen Mann besiegen kann. Ich weiß, dass Gabriel Guai mit dir kämpft«, fuhr sie fort, als Thalia widersprechen wollte, »aber ich finde es wunderbar, dass du dich traust teilzunehmen, was noch keine Frau vor dir getan hat.«
»Vielleicht solltest du es nächstes Jahr probieren«, schlug Thalia vor, doch Oyuun lachte.
»Glaubst du, ich hätte noch nicht genug zu tun? Mit den Kindern, meinem Mann und dem Wohlergehen des Stammes? Ich soll mir auch noch den Rubin aufhalsen? Nein.« Sie kicherte. »Diese Aufgabe überlasse ich den jungen, ungebundenen Leuten. Obwohl«, fügte sie mit funkelnden Augen hinzu, »vielleicht bist du ja gar nicht ungebunden .«
Thalia verstand sofort, dass Oyuun von Gabriel sprach, und errötete. Zwecklos, es zu leugnen. Ihre freiheitsliebende Seele war den starken Händen eines Mannes verfallen.
Die Frau des Anführers blickte zum Eingang des Zeltes und lächelte anzüglich. »Dort ist
Weitere Kostenlose Bücher