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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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wollten.
    Einige Mädchen gingen sofort zu ihnen hinunter. Manche hatten die großen Vögel noch nie aus solcher Nähe gesehen. Und manche Kinder hatten Angst. Doch die Jungen hatten überhaupt keine Angst und häuften Fisch auf und sangen den Vögeln vor, während sie fraßen.

»Wir sind die Kinder des Adlers,
    Ihr seid unsere Väter.«
    Es gab viele Adlerlieder, und manche besagten, dass die ersten von uns Adlereiern entschlüpft waren.
     
    Nun, die Adler beschäftigen noch immer die Fantasie von uns Römern. Auf meinem Landgut gibt es ein Adlernest auf einem Felsvorsprung, und manche Sklaven bringen als Opfer Nahrung dorthin. Etwas in mir findet diese Geschenke lobenswert, als ob die Adler einen Anspruch darauf hätten.
    Was wir für Adler empfinden, muss irgendwo seinen Ursprung haben. Wenn ich das sage, behaupte ich dann, mit jenen Ahnen aus uralter Vorzeit verwandt zu sein? Sind wir in höherem Maße »Kinder des Adlers«, als uns bewusst ist? Mir jedenfalls ist bewusst, dass ich meine Tränen verbergen muss, wenn unsere Römischen Adler mit den Legionen vorüberziehen.
     
    Als die Mädchen mit den Kindern zur Küste zurückkehrten und Maronna vom Festmahl der Adler erfuhr, begriff sie, dass Horsa es mit dieser Unternehmung ernster meinte, als sie angenommen hatte. Sofort rief sie einige Mädchen herbei, die sie begleiten sollten. Die kleinen Jungen hatten erfahren, dass Horsa seine Waldlichtung verließ und dass sie keine Zuflucht mehr haben würden, wenn sie die Küste der Frauen verlassen wollten. Sie fanden es ungerecht, dass Horsa andere Jungen mitnahm, die nicht viel älter waren als die kleinen, während diese ihrerseits zurückbleiben mussten. Sie wollten sich im Wald niederlassen und auf Horsas Rückkehr warten.
    Schon rannten die kleinen Jungen davon, und die Mädchen und Maronna folgten ihnen. Es waren zähe kleine Jungen, die durch das Schwimmen stark geworden waren, doch auch die Mädchen waren stark. Wie viele Jungen an diesem Tag fortgingen? »Ziemlich viele kleine Jungen« – mehr wissen wir nicht. Sie hofften, dass sie noch rechtzeitig zu den Männern stoßen würden, denn alle hatten von den Bäumen gehört, die dort auf sie warteten.
    Bei ihrer Ankunft fanden sie allerdings keinen großen Platz im Wald vor, der von zahlreichen Männern und Jungen jeden Alters bevölkert war. Bäume standen dort, die sie zu beobachten schienen, so viele, so hoch und so mächtig. Und noch etwas sahen sie. Irgendetwas war in die geräumten Hütten und Unterstände eingedrungen und hatte einige sogar umgeworfen. Große schwarze Tiere wühlten grunzend in der Erde, Keiler mit Zähnen wie geschärfte Messer. Wir wissen, dass es Schweine waren, kräftige Schweine, ganz ähnlich wie die, die bei uns gehalten werden, aber riesig, viel größer als unsere, und keineswegs so zahm und wohlgenährt, sondern schlank und schnell und gefährlich. Die kleinen Jungen hatten das Klettern noch nicht gelernt und begriffen nicht recht, in welcher Gefahr sie sich befanden. Die Mädchen waren entsetzt und starr vor Schreck und versuchten, die Kinder an sich zu ziehen, doch wenig später hatte die Herde schon angegriffen und zwei der kleinen Jungen davongeschleppt, fort von der grauenhaften Lichtung. Die anderen Schweine blieben da – schließlich hatten sie zwei für ihr Festmahl erbeutet. Und sie schienen zu sagen: »Das ist unser Platz, bleibt weg.«
    Wahrscheinlich sind Männer und Jungen auf ihrer Lichtung ständig beobachtet worden. Bei ihren nächtlichen Festen muss ihnen das Leuchten gelber und grüner Augen genauso vertraut gewesen sein wie das Lodern der Feuer.
    Es gab nicht nur diese wilde Schweineart, sondern auch gewisse Katzen, die sehr groß waren und ein kräftiges Schwein oder auch mehrere abwehren konnten, und wir wissen, dass in den Wäldern viele davon lebten. Und es gab Hunde, eine Hundeart, die in Rudeln jagte. All diese Tiere hatten nachts verborgen vor dem Licht der Flammen beobachtet, was auf der Lichtung vor sich ging. Bären? Wir wissen, dass es Bären gab.
     
    Ich muss noch einmal unterbrechen, denn während ich von Wäldern und Tieren und der Wildnis berichtet habe, ist mir bewusst geworden, dass wir uns gar nicht vorstellen können, wie es gewesen sein muss, ständig im Schatten riesiger Bäume zu leben, aus denen jeden Moment schreckliche Tiere hervorstürmen konnten. So weit reicht die Fantasie von uns Spätgeborenen nicht zurück. Wie lange ist es her, dass ein Römer, der unsere Wälder

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