Die Kluft: Roman (German Edition)
durchstreifte, einem Bär oder Wolf oder etwas Bedrohlicherem als einer Wildkatze begegnet ist? Als meine Söhne mit den Legionen in den unwirtlichen germanischen Wäldern kämpfen, mussten sie wilde Tiere fürchten, die für uns Legende sind. Unsere gefährlichen Tiere sind hinter Gittern gefangen. Es sind viele, ja. Und wir gehen zu den Spielen, weil es spannend ist, sie zu sehen. Ja, ich gehe zu den Spielen, meist mit meiner Schwester Marcella, die nie ein aufregendes Ereignis verpasst. Sie hat es gern, wenn ich sie begleite, weil das beweist, dass sie nicht so sensationslüstern ist, wie ich immer behaupte. Wenn ich an ihrer Seite bin, hat sie den Beweis, dass sie ein geistig gesunder, zivilisierter Mensch ist. Wenn man dort sitzt und die Tiere hereingebracht werden, um zu kämpfen oder um ihre kriminellen Opfer zu zerreißen, gerät zwangsläufig das Blut in Wallung, und das Herz klopft. Ich habe versucht, neben ihr zu sitzen und mich nicht zu rühren. Doch irgendwann schreit man zwangsläufig, man springt auf, brüllt, und der Geruch des Blutes macht einen verrückt. Warum ich dorthin gehe? Zuerst bin ich gegangen, um mich selbst auf die Probe zu stellen, doch inzwischen weiß ich, dass ich auch nicht besser bin als die blutgierige, schreiende Menge. Am besten geht man gar nicht hin, und heute, wo ich mich den Reizen des Gelehrtendaseins hingebe, gehe ich nur, wenn Marcella mich überredet. Es ist ekelhaft, da sind sich alle einig. Viele Leute sind dieser Meinung und sagen, dass die Spektakel grausam sind und den Zuschauer zum Teilhaber an einer überaus abstoßenden Barbarei machen. Sie sagen es, sie geben es zu und gehen trotzdem hin.
Ich frage mich, ob das alles ist, was man über die Spiele sagen kann, und wenn ich von jenen Menschen lese, die damals in ihren Wäldern lebten, frage ich mich das umso mehr. Jeder, der die Spiele in der Arena genießt, trägt etwas Barbarisches in sich. Doch wenn wir schreien, weil einem Löwen oder Leoparden oder einem der zahllosen anderen wilden Tiere, die unsere Arenen bevölkern, das Blut aus dem Maul quillt – gibt es da vielleicht noch etwas anderes? Ist es Rache, frage ich mich? Wie lange haben unseresgleichen in den Wäldern gelebt, in unmittelbarer Nähe von Leoparden, Ebern, Wölfen, Hundemeuten, denen sie jederzeit zum Opfer fallen konnten? Keinen Fuß konnte man in den Wald setzen, ohne irgendwo ein Raubtier zu sehen, einen schrecklichen Feind. Wie viele unserer Vorfahren starben als Mahlzeit für ihre Feinde, die wilden Tiere? Wir haben all das vergessen. Vielleicht, weil es so schrecklich war, ich glaube nämlich, dass wir so verfahren, wenn uns etwas sehr Schlimmes zustößt. Jene Wölfin, die die ersten Römer säugte, jenes großzügige, liebevolle Wesen – haben wir sie nicht als Gegenpol zu jener langen Geschichte erfunden, in der wir von Wölfen bedrängt und verletzt wurden? Ebenso glaube ich, dass in der Vorstellung, die wir von den Adlern haben, mehr liegt als Bewunderung für ihren Stolz und ihre Schönheit. Adler haben Lämmer aus den Herden gerissen, obwohl die Menschen ihr Vieh dringend brauchten, um zu essen zu haben, und wie ich gehört habe, packen Adler in den wilderen Regionen unseres Imperiums manchmal sogar ein Kind. Es ist eine Vorsichtsmaßnahme, die Adler, die Jupiter angehören, versöhnlich zu stimmen, und wenn wir schreien, weil ein Löwe tot umfällt, ist das dann nicht ein Ausgleich für jene Zeiten, in denen uns Löwen und andere Großkatzen an ihre Jungen verfüttern konnten und das häufig auch taten?
In unseren Arenen sitzen wir auf sicheren Plätzen, essen und trinken und sehen zu, wie die großen Tiere hereingelassen werden, um den Tod zu finden, während sie einst für uns tödlich waren. Wir sind stolze Menschen, wir Römer, und es fällt uns nicht leicht, Schwäche oder Fehlbarkeit einzugestehen, aber vielleicht liegt in unseren Schreien, in unserem Applaus ein solches Eingeständnis. Wir sind auf unseren Plätzen in Sicherheit, und die Tiere, die man vielleicht aus Afrika oder aus den Wüsten im Osten herbeigeschafft hat, sind uns ausgeliefert. Keines wird aus seinem Käfig unter oder neben den Arenen entkommen, alle werden sterben, und wir sehen zu. Dabei denken nur sehr wenige Zuschauer daran, dass wir ihnen einst ausgeliefert waren. Mein Blut stockt förmlich in den Adern, wenn ich an das Lager im Wald denke, wo Horsa über kleine Jungen wachte, die unter seinem Schutz und dem der größeren Jungen zu tapferen
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