Die Knochenkammer
einmal unter die Nase. »Sie beißt nicht. Sie ist tot.«
Lissen starrte auf das Foto, ohne es anzufassen, und schüttelte den Kopf.
»Kennen Sie sie?«
»Sollte ich? Es gibt wahrscheinlich im ganzen Museum niemanden, der weniger mit Menschen zu tun hat als ich. Bilderrahmen, Töpfe, Schwerter, Masken, Instrumente, Kunstwerke. Ich mache Kisten auf und zu. Ich packe ein und verschicke. Ich kenne keine hübschen jungen Frauen.«
Chapman wiederholte ihren Namen, aber Lissen zeigte keine Reaktion.
»Haben Sie irgendetwas mit den Cloisters zu tun?«
»Hat sie dort gearbeitet?«
»Ja oder nein?«
»Ich bin für alles verantwortlich, was hier rein- und rausgeht. Ich habe eine Mannschaft dort, die sich um das Tagesgeschäft kümmert. Ich selbst verbringe keine Zeit dort oben. Das sind kleine Fische verglichen mit unserer Arbeit hier unten. Ich fahre vielleicht zwei- oder dreimal im Jahr dort hinauf, um etwas zu überprüfen.«
»Der Sarkophag, in dem die Leiche gefunden wurde - wo war er, seit er letzten Herbst zurückgekommen ist?«
»Wir versuchen gerade, das alles für Mr. Thibodaux in Erfahrung zu bringen. Wissen Sie, wie viel Bodenfläche ich da unten habe? So viel wie dreißig Footballfelder.«
»Ich dachte, alles hätte eine Nummer, ein Schildchen und seinen Platz.«
»Zwei Drittel der Sachen, Detective. Sie müssen mir schon ein paar Tage Zeit geben. Dort unten wird andauernd hin- und hergeräumt. Wir werden es so bald wie möglich in Erfahrung bringen.«
Thibodaux stützte sich auf die Ellbogen. »Mr. Chapman, ich möchte nicht denselben Fehler machen wie zuvor und Sie möglicherweise kränken. Aber es gibt eine simple Tatsache, die nur sehr wenige Leute bedenken, wenn sie uns oder irgendein anderes Museum auf der Welt besuchen. Die Sammlung des Metropolitan umfasst mehr als drei Millionen Objekte und Kunstwerke. Drei Millionen. Davon sind zu jedem Zeitpunkt maximal knapp zehn Prozent ausgestellt. Das heißt, dass wir buchstäblich Millionen von Objekten im Keller lagern.«
Er hatte Recht: Ich hatte noch nie daran gedacht.
»Manche sind in Kisten verstaut, aus dem einfachen Grund, weil wir in unseren Ausstellungsräumen oder an unseren Wänden nie für sie einen Platz haben werden. Manche Schenkungen sind minderwertig und werden letztendlich getauscht oder verkauft. Hunderttausende sind viel zu zerbrechlich, als dass man sie ausstellen könnte, andere werden von Wissenschaftlern studiert, hier bei uns oder als Leihgabe an anderen Institutionen.«
Chapman und ich sahen uns an. Wo sollten wir bloß anfangen?
»Ich schätze, wir können uns genauso gut mal Ihren Bereich ansehen, Mr. Lissen. Um uns einen Eindruck zu verschaffen, wie die Sachen organisiert und verstaut sind, wie es mit der Sicherheit aussieht -«
»Das System ist hervorragend, Mr. Chapman«, sagte Thibodaux. »Es ist während meiner Amtszeit aufgerüstet worden. In jeder Abteilung des Gebäudes sind Wächter, und nachts patrouilliert der Sicherheitsdienst über und unter der Erde.«
»Überwachungskameras?«
»In den Ausstellungsräumen, Gängen, Lagerräumen, an den Ein- und Ausgängen.«
»Sind sie eingeschaltet?« Einige Jahre vor Thibodaux’ Ernennung zum Direktor hatte ich die Ermittlungen in einem bekannten Mordfall geleitet, in dem ein vor Vitalität sprühendes Mädchen von einem drogensüchtigen Prep-School-Abbrecher auf dem Great Lawn direkt hinter dem Museum ermordet worden war. Auf Grund von Bauarbeiten am rückwärtigen Museumsflügel, der in den Central Park ragte, waren die Kameras, die das Verbrechen normalerweise aufgezeichnet hätten, zwar montiert, aber ohne Film gewesen. Es verfolgte mich immer noch, dass niemand in der Lage gewesen war, den Mord zu verhindern, und dass wir das Verbrechen für die Geschworenen nicht hatten rekonstruieren können.
»Ich … ich gehe davon aus, dass sie funktionieren.«
Seinem verhaltenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, kannte Lissen die Antwort, sagte aber nichts. »Gibt es ein Problem mit den Kameras?«, fragte ich ihn.
»Ich glaube nicht, dass die Filme in den Kameras im Keller in den vergangenen zwölf Monaten gewechselt worden sind.«
»Wie bei diesen bescheuerten Geldautomaten«, sagte Chapman zu mir. Ein junger uniformierter Polizist war während eines bewaffneten Raubüberfalls an einem Bankautomaten erschossen worden. Der Täter hatte direkt in die Kamera gesehen, aber der Film war so viele Male benutzt und immer wieder überspielt worden, dass er völlig
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