Die Knochenleserin
anderen.
Geh nach Hause, Eve. Bonnie wartet schon.
Sie zuckte zusammen. »Mein Gott.«
Joe legte beschützend den Arm um sie. »Wirst du jetzt ins Hotel zurückkehren? Hast du genug?«
Sie nickte benommen. »Ich gehe.« Sie drehte sich um.
Joe schwieg einen Augenblick lang. »Das ist seine Art, dir einen Pflock ins Herz zu treiben, Eve. Lass das nicht mit dir machen.«
»Das ist nur teilweise richtig«, erwiderte sie. »Indem er den Mann tötet, verhöhnt er die Suchtrupps, aber gleichzeitig schickt er mir eine Botschaft. Er ist weg. Er hat den Wald verlassen, Joe.«
Er musterte eindringlich ihren Gesichtsausdruck. »Wie kommst du darauf?«
»Er fordert mich auf, nach Hause zu gehen. Er lockt mich weg mit dem einzigen Köder, von dem er weiß, dass ich ihm nicht widerstehen kann. Außerdem ist er ungeduldig und hat keine Lust zu warten, bis die Suchtrupps merken, dass er nicht mehr da ist. Er will mir sagen, dass er bereits auf mich wartet, wenn ich nach Hause komme.«
»Möglich«, sagte Joe langsam.
»Nein, es ist mehr als möglich. Er fordert mich auf, nach Atlanta zurückzufahren, wo Bonnie entführt wurde. Er lockt mich mit dem Vorschlag, mich dorthin zu führen, wo er sie vergraben hat.«
»Das wird er niemals tun.«
»Nicht, wenn er nicht dazu gezwungen wird. Aber ich habe dir ja erzählt, dass er mir angeblich Hinweise geben will, wo sie zu finden ist. Vielleicht will er eine neue Runde in dem Spiel eröffnen. Aber wenn er den Wald verlassen hat und wieder untertaucht, so wie er es in der Vergangenheit getan hat, dann werden wir ihn womöglich niemals finden. Wir wissen jetzt mehr über ihn, er wird sich also noch vorsichtiger verhalten. Vielleicht ist das jetzt unsere einzige Chance.«
»Die Chance, dich von ihm umbringen zu lassen.«
»Auch die Chance, Bonnie nach Hause zu holen.«
»Und wenn es ihm zu riskant ist, den Wald zu verlassen, so lange überall in der Umgegend Streifenpolizisten postiert sind?«
»Hast du nicht neulich selbst erklärt, du würdest ihm ohne weiteres zutrauen, dass er an diesen Posten vorbeikommt?«
Joe stieß einen Fluch aus. »Du bist also fest entschlossen, es zu tun?«
»Wieso fragst du noch? Du weißt doch, dass ich es tun werde.« Sie öffnete die Wagentür. »Ich fahre nach Atlanta, Joe.«
9
S ie reist ab«, sagte Miguel zu Montalvo, als er ihm das Telefon reichte. »Sie ist schon unterwegs zum Flughafen. Quinn begleitet sie.«
»Natürlich begleitet er sie«, erwiderte Montalvo. »Er wird sie kaum allein in die Höhle des Löwen gehen lassen.«
»Glauben Sie, dass Kistle entkommen ist?«
»Wenn er es wollte, ja. Du könntest es, ich könnte es. Und ich wette, er wollte weg. Es wurde ihm allmählich zu eng, als dass es ihm noch Spaß gemacht hätte. Er konnte nicht mehr wie ein Adler die Schwingen ausbreiten und überall hinfliegen. Und er kam nicht in Eves Nähe. Die Botschaften waren die einzige Möglichkeit für ihn, Kontakt zu ihr aufzunehmen, und es hat ihm sicherlich nicht viel Befriedigung verschafft, Eve weder sehen noch hören zu können.«
»Bleiben Sie noch länger in der Gegend, um sich zu vergewissern?«
»Eve ist sich sicher. Ich vertraue auf ihren Instinkt. Ich werde mit Cassidy sprechen und ihm mitteilen, dass Kistle wahrscheinlich ausgeflogen ist. Er wird die Suche so lange fortsetzen, bis er sich ganz sicher ist, aber er kann sich das erlauben. Ich erwarte dich in einer Stunde am Flughafen.«
Eve und Joe trafen bei Sonnenuntergang in ihrem Haus am See ein. Die Sonne spiegelte sich blutrot im Wasser. Wunderschön, dachte Eve erschöpft. Es tat gut, endlich wieder solche Schönheit zu sehen, nachdem sie so viel Hässliches erlebt hatte.
Joe hielt vor dem Haus und sprang aus dem Wagen. »Warte einen Moment.« Er nahm zwei Stufen gleichzeitig zur Veranda hinauf und verschwand im Haus. Nach ein paar Minuten kam er wieder heraus. »Die Luft ist rein.« Er öffnete ihr die Wagentür. »Geh rein und verriegle die Türen. Du weißt, wo die Pistole liegt. Ich fahre zu Janes Freundin und hole Toby ab. In zwanzig Minuten müsste ich wieder hier sein.«
»Ich glaube kaum, dass Kistle etwas so Offensichtliches tun würde«, sagte Eve, während sie die Stufen hinaufstieg. Schon jetzt spürte sie, wie ihre Ruhe und ihre Gelassenheit zurückkamen. Als befände sie sich im Auge des Hurrikans. Es schien einfach unvorstellbar, dass hier, wo sie seit so vielen Jahren glücklich war, irgendetwas Schlimmes passieren könnte. »In ein Haus
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