Die Knochenleserin
Kistle. Und sie verfluchte ihre eigene Besessenheit, die Joe erneut in Gefahr brachte.
Okay, sie wusste, dass sie es tun musste und dass Joe sich weigern würde, tatenlos zuzusehen. Es würde also geschehen. Wie konnte sie dafür sorgen, dass sie lebend aus dieser Sache herauskamen?
Joe kehrte erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück und ging sofort unter die Dusche.
»Kein Zeichen von Kistle?«, fragte sie, als er ins Wohnzimmer kam.
»Nein«, erwiderte er kurz angebunden. »Du hattest recht. Für ihn hat das Spiel noch nicht angefangen.«
»Im Kühlschrank steht Eintopf. Hast du Hunger?«
»Nein, ich esse später was.« Er trat auf die Veranda.
Sie zögerte. Die Spannung war wieder da, und was sie ihm zu sagen hatte, würde ihm nicht gefallen. Aber es hatte keinen Zweck, es aufzuschieben. Er würde sich aufregen, egal wann sie es ihm sagte.
Sie öffnete die Fliegengittertür und ging nach draußen auf die Veranda. »Ich muss mit dir reden, Joe. Ich habe nachgedacht.«
Er drehte sich zu ihr um. »Sag bloß, du hast es dir anders überlegt.«
Sie schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Ich werde Montalvo anrufen.«
Er erstarrte. »Wie bitte?«
»Kistle wird nicht zulassen, dass wir die Hilfe der Polizei oder des FBI anfordern, aber Montalvo fällt in keine der beiden Kategorien. Er wird ihn nur als einen Freund von mir betrachten, der ihm in die Quere kommen könnte.«
»Sieh mal einer an, genau so schätze ich ihn auch ein.«
»Verdammt, Joe. Wir brauchen Hilfe. Kistle wird auf uns warten.«
»Nicht Montalvo.«
»Doch, Montalvo. Ich habe dir doch erzählt, dass Kistle ihn bereits aufs Korn genommen hat. Wenn er hierherkommt, dann ist es für ihn sicherer, und wenn er uns hilft, Bonnie zu finden, ist es für uns sicherer. Das ist doch nur vernünftig.«
»Da bin ich ganz anderer Meinung.« Seine Lippen zuckten. »Aber du wärst auf jeden Fall die Gewinnerin, egal wen von uns beiden das Schwein tötet.«
Sie zuckte zusammen. »Das habe ich nicht verdient.«
»Vielleicht nicht«, sagte er. »Aber ich kann im Moment nicht besonders klar denken.«
Weil er zu verletzt und wütend war, um auch nur ansatzweise zu verstehen, was sie tat. »Es ist die beste Lösung für ein beschissenes Problem. Ich werde ihn anrufen, Joe.«
»Nur zu.« Er wandte sich von ihr ab. »Aber sag ihm lieber gleich, dass die Chancen, hier durch Freundbeschuss ums Leben zu kommen, größer sind als in den meisten Kriegen.«
»Ich bin in zwei Stunden da«, sagte Montalvo. »Obwohl es mich ein wenig brüskiert, dass Sie glauben, ich bräuchte Schutz. Wenn Sie meinen, Kistle könnte versuchen, mich zu beseitigen, sollte ich vielleicht hierbleiben und es darauf ankommen lassen.«
»Herrgott noch mal, hören Sie endlich auf, den Macho zu spielen. Es macht mich wahnsinnig, dass Sie und Joe das Ganze für eine Art Katz-und-Maus-Spiel halten. Kistle will sein eigenes Spiel durchziehen, und das ängstigt mich zu Tode. Ich weiß, dass Sie sowieso nicht weggehen werden, und gemeinsam sind wir stärker.«
»Was sagt Quinn dazu?«
»Was glauben Sie wohl? Irgendwas über Freundbeschuss.«
Montalvo lachte in sich hinein. »Bei Quinn wäre der Beschuss garantiert nicht freundlich. Allein schon um ihn zu ärgern, würde ich kommen.«
»Und dann würde ich Sie am liebsten erschießen. Machen Sie es nicht so schwer für mich. Sonst werde ich es auf meine Weise mit Kistle aufnehmen. Das wäre wahrscheinlich sowieso das Beste. Es macht mich krank zuzusehen, wie andere ihr Leben riskieren, nur weil ich zulasse, dass Kistle mich wegen Bonnie aufs Glatteis führt.«
»Sie vergessen, dass ich Ihnen dasselbe angetan habe. Als ich Sie kennengelernt habe, habe ich Bonnie benutzt, um Sie dazu zu bringen, dass Sie Ihr Leben riskieren. Wir wären also quitt. Aber ich würde kein Glatteis erwarten, eher zu dünnes Eis, das bricht.« Etwas munterer fuhr er fort: »Aber ich werde mich zurückhalten und Quinn nicht übermäßig auf die Palme bringen. Und ich werde nicht in Ihrem Haus übernachten. Miguel und ich werden im Wald zelten, bis Sie von Kistle hören. Auf diese Weise kann ich Sie im Auge behalten.« Dann fügte er noch hinzu: »Und Sie können ein Auge auf mich haben. Wäre das nicht bequem?«
Sie überging die Frage. »Kistle könnte etwas gegen Miguel einzuwenden haben.«
»Er wirkt doch ziemlich harmlos. Er ist jungenhaft und hat zwei bandagierte Hände. Kistle wird glauben, dass er ihn jederzeit aus dem Verkehr ziehen kann. Und
Weitere Kostenlose Bücher