Die Knochentänzerin
Folgende:« Wieder machte Cosmas eine bedeutungsschwere Pause. Währenddessen kam Wind auf und trieb den Morgennebel wie Rauch über die Wiese. Cosmas hatte die Augen geschlossen, und es war schwer zu sagen, ob dies der Dramatik des Augenblicks dienen sollte oder ob er schlicht eingeschlafen war. Beinahe erschrak ich, als er die Augen plötzlich weit aufriss und hinausposaunte, dass man es bestimmt bis Prag hörte: »Es ist der Schädel des heiligen Veit.«
Beinahe belustigt schüttelte William den Kopf. »Schrei nicht so herum. Gestern war es zuerst noch der Schädel eines Märtyrers, danach der Kopf einer heiligen Jungfrau Namens Saturnia, und mit einem Mal handelt es sich um Sankt Veit. Wahrlich, ein wandelbarer Schädel.«
»Aber es ist so!« Cosmas’ Augen fielen fast aus den Höhlen. »Es ist der heilige Veit!«
»Cosmas, so überzeugend, wie du lügst, könnte man dir fast glauben. Doch eine Tatsache bleibt bestehen. Es ist der Kopf eines Kindes. Daran ist nicht zu rütteln.«
»Selbstverständlich! Hört zu, ich erzähle euch die wahre Geschichte! Natürlich ist das ein Kinderkopf. Denn Sankt Veit starb bereits als Kind den Märtyrertod! Wenn das nicht wahr ist, soll mich auf der Stelle der Blitz treffen!«
Während William und ich durch den Nebel in der Hoffnung zum Himmel blickten, dort braue sich tatsächlich ein Gewitter zusammen, fuhr Cosmas mit tragender Stimme fort: »Der heilige Veit ist Schutzpatron der Böhmen und Prags, außerdem der Apotheker, Bierbrauer, Kupferschmiede und Gastwirte. Man stelle sich vor, er ist auch dafür verantwortlich, dass die Pilze gut wachsen. Deshalb nennen wir Böhmen ihn Pilzpatron.«
»Pilzpatron«, wiederholten William und ich ungläubig.
»So ist es. Geht er dieser Aufgabe nach, reitet er ein weißes Pferd und trägt ein Füllhorn, aus dem der geifernde Schaum des Pferdes tritt, woraus wiederum die Pilze wachsen.«
Insgeheim schworen William und ich in diesem Moment gewiss gleichzeitig, zukünftig selbst in größter Not auf den Verzehr von Pilzen zu verzichten.
Cosmas erzählte weiter: »Als Veit geboren wurde, gaben seine Eltern ihn einer Amme und deren Mann zur Erziehung. Diese unterrichteten ihn im Christentum.« Cosmas bekreuzigte sich. »Das passte seinen Eltern nicht, sie wollten ihren Sohn zurück. Doch Veit floh mit der Amme und ihrem Mann in das fremde Land Lukanien, wo ihnen Adler Brot brachten und er allerlei Wunder wirkte.«
»Adler brachten Brot?« William verdrehte die Augen.
»So ist es. Außerdem erhielt der Kaiser Kunde von den Wundern des heiligen Veit.«
»Welcher Kaiser?«
»Der von Rom selbstverständlich. Sein Name war Diokletian, und er hatte einen Sohn, der von bösen Geistern befallen war. Also ließ der Kaiser den Knaben Veit holen, damit dieser die bösen Geister vertrieb. Nachdem es gelungen war, sollte Veit dem christlichen Glauben entsagen und heidnischen Göttern Opfer bringen. Selbstverständlich weigerte Veit sich. Also wurde er den Löwen vorgeworfen. Doch diese taten ihm nichts, legten sich vor ihm nieder und leckten seine Füße. Deshalb ließ der Kaiser den Knaben in siedendes Öl werfen, woraus ihn Engel retteten, die ihn zurück nach Lukanien brachten, wo er schließlich starb. Die Adler bewachten seinen Körper, bis eine Witwe ihn fand und begrub.« Cosmas hielt inne und blickte uns erwartungsvoll an. »Und? Was sagt ihr?«
»Interessant«, erklärte William. »Besonders das mit den Löwen und den Engeln. Aber sag uns doch, wie gelangte der Schädel des Heiligen dann auf diesen Friedhof unter die Knochen der elftausend Jungfrauen?«
Cosmas kehrte in sich, bevor er verkündete: »Genaues weiß man natürlich nicht. Doch ich glaube Folgendes: Aus sicheren Kreisen ist mir zunächst bekannt, dass die heilige Reliquie vor fünfhundert Jahren nach Paris gelangte, von dort aus in ein Benediktinerkloster in Sachsen. Dort ruhte der Schädel zweihundert Jahre in Frieden, bis Reliquiendiebe ihn raubten. Doch die Adler fanden ihn und brachten ihn hierher.«
»Warum gerade hierher?«, fragte ich.
»Weil es Lukanien zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gab«, antwortete Cosmas mit bestechender Logik.
»Mir ist aber nicht bekannt, dass Adler ein so hohes Alter erreichen«, warf William mit einem Augenzwinkern zu mir ein.
Cosmas bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick: »Dummkopf. Es waren natürlich andere Adler als die erstgenannten. Nachkommen.«
»Ach so. Das ist eine interessante Geschichte. Besonders schön finde ich die
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