Die Knochentänzerin
Geilheit, Völlerei und scheinheilige Lügengespinste. Sowieso war er mit seinen Gedanken nun, während der Prager Erzbischof Ernst von Pardubitz im protzigen Festornat und mit weibischem Singsang lateinische Gebetsformeln rezitierte, ganz woanders – nämlich dort, wo gleich das wirkliche Leben stattfinden würde, jenseits der winkelzügigen Auslegung von Gleichnissen, die angeblich im Meer der Weisheit schwammen – nein, es ging nur um eins: Wer durfte leben, wer musste sterben.
Die Prämonstratensermönche verließen ihr improvisiertes Chorgestühl aus aufgestellten Bänken, marschierten neben den mit einem weißen Tuch zum Altar stilisierten Holztisch und intonierten das Sanktum. Faliero blickte sich um. Die Wände, die einst den Ostchor ummanteln sollten, endeten auf halber Höhe, die Öffnungen, in der Vision des Baumeisters elegante, gotische Fensterspitzbögen, waren mit Brettern vernagelt. Ein Holzkonstrukt, das einem Scheunendach glich, verbarg den Abendhimmel. Für die hohen Festgäste, den ungarischen König und den Dogen von Venedig, hatte man thronartige Sessel aufgestellt, das Gefolge saß auf einfachen Stühlen. Weißer Weihrauch waberte im Provisorium des Chors, so dass es aussah, als stünden der Erzbischof, die Priester und die Prämonstratensermönche im Nebel. Faliero grinste. Je mehr Weihrauch, desto besser.
Die Messe schleppte sich zäh dahin. Faliero unterdrückte ein Kichern, als der Erzbischof mit zittriger Altmännerhand Wein verschüttete. Auch der böhmische König, der ungarische König und der Doge knieten nieder, als der Leib des Herrn über dem Altar schwebte. Dandolo verstand es, besonders heilig dreinzublicken. Geheuchelte Demut vor dem Allmächtigen.
Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis.
Amen. Faliero lauschte auf das Glockengeläut. Das Zeichen, dass es nun gleich losgehen würde. Der Erzbischof schlürfte Wein aus dem Kelch, wischte sein Kinn ab und zermalmte die Hostie.
Corpore et sanguine domini.
Leib und Blut des Herrn. Wie passend. Ein anderer, beißender Geruch hatte sich unter die Weihrauchschwaden gemischt. Faliero glaubte, ein Knistern zu hören. Ein Mönch hustete, räusperte sich hörbar, hustete wieder. Faliero kniete inzwischen neben Pietro Dandolo. Während er sein Haupt gesenkt hielt, flogen seine Augen umher. Die Mönche stellten sich wieder auf und sangen die Communio. Nach den beiden Königen erhob sich nun auch Dandolo wieder aus dem Kniestand und nahm auf seinem Thronstuhl Platz. Bald, dachte Faliero, bald ist es um deine Erhabenheit geschehen.
Der beißende Geruch war stärker geworden. Vereinzelt wurden Köpfe gehoben, es sah aus, als würde Witterung aufgenommen. Hüsteln und Räuspern mischten sich mehr und mehr in den Chorgesang. Und nun sah Faliero auch endlich erste Flammen, die über das Gebälk der Holzkonstruktion leckten. Beinahe gleichzeitig entdeckten die meisten Besucher der Messe, dass es brannte.
»Feuer!« Die Männer sprangen auf und riefen aufgeregt durcheinander.
Faliero packte Dandolo am Ellbogen. »Rasch! Es brennt! Gleich stürzt hier alles ein! Kommt mit mir! Ich weiß, wie wir am schnellsten hinauskommen.«
41
Zeugen
I ch trug ein neues Nonnengewand, und Cosmas und William redeten gleichzeitig auf mich ein. Auf unserer Flucht vor Boleslav und seinen Schlägern waren wir zur Dombaustelle gelangt, kein schlechter Ort, wie Cosmas argumentierte, denn Boleslav und seinesgleichen würden alles auch nur im Entfernten Heilige wie der Teufel das Weihwasser meiden. Überhaupt öffnete sich für uns das Tor der alten Stadt nur, weil Cosmas – wie er es nannte – das Zauberwort kannte. Aus meiner Sicht waren wir deshalb noch lange nicht in Sicherheit, wenn ein Gauner Einlass fand, würde auch der andere Mittel und Wege wissen.
Noch weniger allerdings hielt ich von Cosmas’ und Williams Plan, was die Kopfreliquie des heiligen Veit und unser weiteres Vorgehen betraf.
»Ich weiß gar nicht, warum du dich so zierst«, redete William auf mich ein wie auf einen kranken Gaul. »Der böhmische König wird entzückt sein von deiner Schönheit, deiner Anmut und …«
»… und dem Veitsschädel«, half Cosmas beflissen.
»Niemand wird einer Nonne den Zutritt zur heiligen Messe verweigern, schon gar nicht, wenn sie …«
»Ich verstehe nicht, warum wir nicht bis morgen warten«, fuhr ich William ins Wort. »Cosmas hat doch gesagt, der Dombaumeister wird dafür sorgen, dass uns der König morgen empfängt. Warum die
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