Die Knochentänzerin
dem Weg nach Rom.«
»Sagtest du nicht Venedig?«, flüsterte ich, doch William wehrte mit einer Handbewegung ab, lächelte den Zwerg an und wies flussabwärts:
»Sagt, ehrwürdiger Vater, liegt Rom nicht in dieser Richtung?«
»
Mille viae ducunt hominem per saecula Romam
«,
knurrte der Kleine und blinzelte in die Sonne.
»Mag sein, dass es früher so war, als der Papst noch in Rom residierte«, antwortete William. »Doch nun, seit sein Palast in Avignon steht …«
»Grundsätzliche Dinge ändern sich niemals«, philosophierte der Mönch und beharrte: »Der Papst ist vielleicht umgezogen, doch das ändert nichts an der Tatsache: Rom ist das Herz der Kirche, und deshalb führen nach wie vor alle Wege dorthin.«
»Woher kommt Ihr denn, ehrwürdiger Vater, wenn ich fragen darf?«
Der Zwerg schwenkte seinen knorrigen Wanderstock vom Fluss zu den Hügeln. »Von weit her. Du magst es glauben oder nicht, doch einst hatte ich ein Weib und eine Kinderschar, und ich war Waffenschmied und fertigte tagein, tagaus Speer- und Pfeilspitzen und Schwerter an, um es den Menschen zu ermöglichen, sich gegenseitig umzubringen.«
»Und dann?«
»Dann eines Tages, als ich mit dem Blasebalg das Feuer fauchen ließ, entstieg diesem plötzlich ein Engel mit Flammenschwingen und sprach zu mir.«
»Was sprach er denn?«
»Er sprach, Rodolf – so hieß ich damals – Rodolf, verlasse Kinder und Weib, lass einfach alles stehen und liegen und finde deinen Weg.«
»Den Weg nach Rom?«
Die schmalen Augen des Zwergs waren klar wie das Wasser des Baches, in dem William und ich uns geliebt hatten. »Was weiß ich. Ist es nicht so, dass jedermann seinen eigenen Weg finden muss?«
»Du sagtest, deiner führt nach Rom.«
»Das sagte ich.«
Eine Weile standen wir uns schweigend gegenüber. Dann fragte William: »Wie lange befindet Ihr Euch denn nun schon auf der Suche nach diesem Weg, ehrwürdiger Vater?«
Der Mönch senkte seinen Wanderstab und stützte sich schwer darauf: »Zum Fest der heiligen Barbara jährt sich der Beginn meiner Suche genau zum zwanzigsten Mal.«
»Zwanzig Jahre schon!«, rief William erstaunt und schlug vor: »Wollt ihr uns nicht vielleicht begleiten, damit Ihr Rom findet und endlich das Ziel Eurer Reise erreicht?«
Der Zwerg schüttelte den Kopf, so dass sein Bart flog: »Jeder muss allein ans Ziel seiner Reise gelangen. So ist es vorbestimmt.« Sprach’s und stapfte ohne ein Wort des Abschieds flussaufwärts davon.
Wir blickten ihm lange nach, bis ich schließlich fragte: »Wohin willst du jetzt eigentlich?«
William küsste mich. Dann klopfte er auf den Beutel, der über seiner Schulter hing. »Nach Venedig. Nach wie vor. Schließlich gilt es, dort den Mantel des heiligen Markus zu verkaufen.«
»Warum sprichst du dann immerzu von Rom?«
»Es ist dieselbe Richtung. Und du hast doch gehört, was der Zwerg gesagt hat: Alle Wege führen nach Rom.« William begann heftig zu winken. Ein Schiff, beladen, dass es fast unterging, näherte sich.
44
Schlange
D u verstehst nichts vom Krieg.«
Aluicha lächelte fein. »Immerhin so viel, um zu wissen, dass es von Vorteil ist, am Ende auf der Seite der Sieger zu stehen.«
Faliero schüttelte ungeduldig den Kopf. »England hat Frankreich und dessen Verbündete in Crécy vernichtend geschlagen.«
»Der englische Sieg damals hat gar nichts entschieden. Es herrscht nach wie vor Krieg. Mein Vater sagt immer, es gibt nur einen Weg zu einer Entscheidung, und der führt aufs Meer. Dort kann nur einer gewinnen: derjenige, der Venedigs Flotte auf seiner Seite hat.«
Faliero wälzte sich vom Lager und angelte nach seinem Umhang. Das Bett und ein Hocker waren immer noch die einzigen Möbelstücke im Raum. Dandolos Witwe hatte zwar dafür gesorgt, dass die persönliche Habe der Familie sehr rasch aus dem Dogenpalast verschwunden war, doch Falieros eigene Sachen befanden sich immer noch auf einem jener Irrwege, den Dinge so häufig nahmen, wenn die Verwaltung Venedigs tätig wurde. Zuletzt waren seine Möbel von Dandolos Witwe zurückgeschickt worden, ein Beamter hatte die Ladung mit
duce veneciae
gezeichnet, was den Kapitän des Kahns dazu veranlasste, Dandolos Palazzo am Canal anzusteuern. Faliero war in zweierlei Hinsicht verärgert. Zum einen musste er nun noch länger auf den Komfort eigener Sachen verzichten, zum anderen wurde ihm deutlich vor Augen geführt, dass in den Köpfen des gemeinen Volkes immer noch der tote Dandolo Doge war. Er musste wohl erst einmal
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