Die Knochentänzerin
Er wandte sich wieder seinem
proto
zu und bemerkte kaum, wie sie sich rasch erhob und aus dem Raum verschwand.
Aluicha war mitnichten erleichtert. Im Gegenteil, sie war entsetzt! Konnte es sein, dass sie Faliero unrecht getan hatte? Während sie die Palaststufen hinunterhastete, rasten die Gedanken in ihrem Kopf. Was, wenn er die Wahrheit gesprochen hatte? Sie musste es herausfinden, aber dazu brauchte sie mehr Zeit! Wenn sie Glück hatte, dann lag der Brief jetzt noch auf Sparacios Schreibtisch, auf den die Anklagen fielen, nachdem sie von der anderen Seite her in die
bocca di leone
geworfen worden waren. Kein Mensch verlangte von dem Beamten, dass er nachts Wache hielt, um darauf zu warten, ob eventuell etwas auf seinem Tisch landete.
Sie musste sich beherrschen, um nicht über den Hof zu rennen.
»Ein, zwei Tage muss ich den Brief zurückhalten«, murmelte sie hektisch zu sich selbst. »Dann, wenn klar ist, ob Faliero die Wahrheit gesprochen hat oder nicht, kann ich immer noch entscheiden, ob ich ihn anklage.«
Die Tür zu Sparacios Zimmer war nur angelehnt. Ein schlechtes Zeichen. Der Beamte war ein penibler Mensch, der, wenn er nicht da war, den Schlüssel lieber zweimal im Schloss drehte als nur einmal.
Da saß er, an seinem Tisch auf der anderen Seite des Löwenmauls. Sie sah seinen schmächtigen, leicht gekrümmten Rücken, den braunen Amtsmantel, das penibel gekämmte, schulterlange Silberhaar.
»Ach, Ihr seid schon hier? Sehr fleißig.« Sie sprach mit ausgesuchter Freundlichkeit. Währenddessen suchten ihre Augen hektisch den Tisch ab. Lag da ihr Brief? Nein. Die Holzplatte glänzte leer, wie frisch poliert. Sparacio drehte sich langsam um, selbst diese Bewegung war ein Ausdruck von Gewissenhaftigkeit. Als er sie erkannte, sprang er erschrocken auf und nahm Haltung an.
»Signora Dogaressa. Welche Ehre. Selbstverständlich bin ich auf meinem Posten. Schon seit geraumer Zeit. Wie kann ich Euch zu Diensten sein?«
»Eigentlich gar nicht, vielen Dank. Ich habe nur etwas verlegt, und das Mädchen ist zu dumm, es zu finden. Da dachte ich …, Ihr wisst schon, die Dinge nehmen oft einen seltsamen Weg. Aber hier ist es bestimmt nicht. Manchmal ist man so in Gedanken, dass …«
»Gewiss.«
Aluicha konnte sehen, dass dem Beamten ihre Erklärung seltsam vorkam. Wie sollte etwas Verlorenes aus den Gemächern der Dogaressa ausgerechnet hier landen? Am Ende dachte der Mann noch, sie verdächtige ihn des Diebstahls. Allerdings war ihr auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen. Betont beiläufig erklärte sie: »Es scheint ja heute nicht einmal ein Brief auf Eurem Schreibtisch gelandet zu sein.«
»Doch. Jemand hat in der Nacht ein Schreiben eingeworfen. Sogar gesiegelt mit dem geflügelten Markuslöwen.«
Es fiel Aluicha schwer, gelassen zu reagieren. An das Siegel hatte sie gar nicht mehr gedacht. Natürlich war der Kreis derer, die das Dogensiegel benutzen durften, sehr eng. Es konnte sich praktisch nur um einen Sekretär der Kanzlei handeln. Oder um sie. Sie brachte ein maskenhaftes Lächeln zustande. »Interessant. Ein Brief aus dem eigenen Haus? Habt Ihr ihn geöffnet?«
»Das ist mir, wie Ihr wisst, untersagt. Ich habe ihn selbstverständlich sofort an den Großen Rat weitergeleitet.«
»Selbstverständlich.« Aluicha fluchte innerlich. Sie war zu spät gekommen. Ihre Anklage war unwiderruflich. »Nun denn.« Sie brachte ein weiteres gequältes Lächeln zustande. »Dann will ich Euch nicht länger stören.« Mit diesen Worten drehte sie sich um, verließ das Amtszimmer und kehrte in den Palazzo zurück.
Schon wenig später erhielt sie Besuch von Giovanni Gradenigo, ihrem Vater. Er schickte die Dienerin vor die Tür, setzte sich seiner Tochter gegenüber und betrachtete sie nachdenklich. Sie erwiderte trotzig seinen Blick. Nach längerem Schweigen sagte er: »
Figlia
, weißt du, was du getan hast?«
Der ganze aufgestaute Zorn brach nun in Form von Tränen aus ihr heraus. »Ich dachte, er betrügt mich«, heulte sie, »oder hatte es zumindest vor!«
»Mit dieser rothaarigen …«
»Strega!«,
fluchte Aluicha mit tränennassem Gesicht.
Gradenigo beugte sich vor und hob die Hand, als wolle er ihre Tränen abwischen, unterließ es dann aber doch.
»Figlia«,
sagte er stattdessen nur und schüttelte den Kopf.
»Er hat sogar Alberegno kommen lassen, damit er sie malt. Die Hure hat mir selbst triumphierend an den Kopf geworfen, dass er sie zu seiner Konkubine machen wollte.«
»Gütiger
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