Die Knochentänzerin
weißen Pferd, das übers Meer fliegt?«
»Du glaubst mir nicht?«
»Nein.« Er lachte. »Wie lange wartest du schon auf ihn? Ein Jahr? Zwei?«
»Fünfzehn«, flüsterte ich kleinlaut.
»Ha! Da siehst du.« Er wühlte noch ein letztes Mal in der Kiste herum und ließ die aufgelesenen Knochen in den Sack fallen. Es klapperte schauerlich. Er verschnürte den Sack und richtete sich auf. »Sag mir, wie ich ungesehen aus dem Kloster komme. Die Mauern sind hoch.«
»So wie du hereingekommen bist«, schlug ich hämisch vor.
»Das geht nicht. Ich hab mich unter das Gefolge des Bischofs gemischt. Niemand hat es bemerkt, und so kam ich durch die Pforte.«
Nun war es an mir, einen plötzlichen Entschluss zu fassen, denn mit einem Mal hatte ich die bittere Wahrheit erkannt. Ich konnte mich noch bis in alle Ewigkeit mit der Hoffnung trösten, mein Vater käme wirklich eines Tages, um mich zu holen. Der Reliquiendieb hatte recht. Ich würde hier auf dieser verlassenen Insel leben, sterben und begraben werden, bis ich die Knochengestalt Donnans annahm und schließlich zu Staub zerfiel. Rasch schlug ich vor: »Ich sag es dir, wenn du mich mitnimmst.«
»Niemals!« Ich konnte hören, wie entschlossen er war.
»Dann erfährst du es nie. Zusätzlich werde ich jetzt anfangen so laut zu schreien, dass alle aufwachen, einschließlich des Bischofs.« Ich öffnete meinen Mund, so weit ich konnte.
»Halt! Nicht!« Er wedelte hektisch mit der Rechten. »Nicht schreien! Wir werden uns einigen.«
»Nur wenn du mich mitnimmst.«
Er sackte regelrecht in sich zusammen. Es schien ihm wohl ein allzu hartes Los, wenn ich ihn begleitete.
»Übrigens, du siehst selbst aus wie ein Skelett«, grinste ich schief, um ihm Mut zu machen, es sei doch nicht so schlimm, mit mir zu segeln.
Er seufzte schicksalsergeben, warf mir einen finsteren Blick zu und reichte mir den Knochensack. »Du trägst aber den Heiligen.«
»
Das
ist dein Boot?« Ich wollte es nicht glauben.
Er zuckte mit den Schultern. »Was ist daran auszusetzen?
Ich lachte panisch und deutete auf das sturmgepeitschte Wasser. »
Damit
willst du übers Meer fahren?«
»Ich bin auch damit gekommen«, bestätigte er und fügte hinzu: »Du hast mich gezwungen, dich mitzunehmen, nicht ich dich. Wenn du ins Kloster zurückwillst – bitte schön. Es würde mich freuen.«
»Du wirst ohne diese Freude leben müssen«, erwiderte ich schnippisch. Wieder zeigte mein Finger aufs Meer, wo die Gischt aufflog. »Wie willst du dich zurechtfinden? Wie bestimmst du, wo Norden und Süden sind?«
»Wir fahren nach Norden.« Erneut gab er den Angeber. »Ich bin ein guter Seemann. Ich kenne die Sternbilder und kann so die Richtung bestimmen.«
Mein Finger fuhr himmelwärts, wo die Wolken wie Ungetüme flogen. »Zeig mir nur einen einzigen Stern!«, schrie ich ihn an.
Er grinste schief. »Zumeist kommt der Wind aus Nordwest. Segeln wir hart am Wind, so kommen wir genau ans Ziel. So einfach ist das.«
»Einfach? Zumeist! Und nichts kann schiefgehen?« Ich konnte es nicht fassen und schrie noch lauter. »Mit dieser Nussschale, in diesem Sturm? Selbst wenn wir damit nicht schon hinter der nächsten Insel im Meer versinken – was wenn der Wind diesmal nicht die Güte hat, aus Nordwesten zu wehen?«
Die Krähe, die stank wie ein Ziegenbock, zuckte mit den Schultern. Immer noch grinste er und zeigte dabei ein erstaunlich gut erhaltenes Gebiss. »Dann werden wir Fischfutter.«
5
Prag, Hradschin
P eter Parler war gut vorbereitet. Trotzdem konnte er seine Aufregung nicht verbergen. Nervös zupfte er den Pelzsaum seines aufwendig gearbeiteten Umhangs zurecht. Währenddessen öffneten zwei seiner Gehilfen ein gutes Dutzend Pergamentrollen und breiteten sie vorsichtig auf dem eigens dafür aufgestellten, riesigen Tisch aus.
»Wie geht ihr denn mit meinen wertvollen Zeichnungen um?«, stauchte Parler seine Gesellen grundlos zusammen, obwohl sie größte Sorgfalt damit walten ließen. Aber irgendwie musste er seiner Anspannung Luft verschaffen. Gleich – so hoffte er zumindest – würde er die Pläne seinem neuen Auftraggeber zeigen: Karl dem Vierten, dem deutschen und böhmischen König, seit einem Jahr Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Neben dem Papst gab es keinen bedeutenderen Mann, dessen Architekt man werden konnte. Dabei hatte Parler bei weitem noch nicht das Alter erreicht, das normalerweise dem Wissen und der Würde eines Dombaumeisters entsprach. Er zählte gerade dreißig Jahre. Dafür
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