Die Knochentänzerin
kamen immer näher. Wie Schafe kannten sie jeden Absatz, jeden sicheren Tritt im Fels. Doch endlich erreichte auch ich ein schmales Band, besetzt mit Kies und grobem Stein. Wir hasteten darüber, ich stolperte, strauchelte, schlug der Länge nach hin. William zog mich hoch und zerrte mich weiter. Nun hatten wir den Hafen erreicht, ohne zu zögern, steuerte William auf das Schiff zu. Er zog die Schlinge, die den Kahn festhielt, vom Pfahl, schleuderte sie ins Meer und warf den Knochensack an Bord.
»Warum nicht das Boot …?«‚ rief ich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie wir das Schiff so schnell hinaus aufs Meer bringen sollten.
William sprang ohne eine Antwort hinein und gestikulierte wild, damit ich es ihm gleichtat. Er drückte mir ein Ruder in die Hand, nahm selbst eins und stemmte es gegen den Fels. Träge und faul bewegte sich das dickbauchige Schiff. Nun hatten auch unsere Verfolger den Strand erreicht. Brüllend stürmten sie zum verbleibenden Boot. Wir trieben noch keine drei Mannslängen im Hafen, als sie es erreichten. Sie stutzten, denn sie waren zu viele. Der Lord bellte Befehle und sprang mit Vieren in den Kahn. Sofort legten sie sich in die Ruder. »Gleich haben sie uns«, jammerte ich und paddelte selbst wie wild. Die Ruder wühlten das Meer auf, schreiend kamen die Verfolger näher, immer näher. Der Lord stand aufrecht im Heck seines Bootes und blickte triumphierend drein. Er wusste, es gab kein Entkommen für uns. Schon schabte das erste Holzblatt über die Schiffswand. Verzweifelt holte ich weit aus, mein Ruder beschrieb einen verwegenen Halbkreis, fegte über die Köpfe der Eilandwilden hinweg und mähte Lord Eachann über Bord. Klatschend fiel er ins Wasser. Und da geschah noch ein Wunder. Gerade wollten die siegessicheren Mannen unser Schiff entern, da fuhr wie aus dem Nichts eine wütende Windböe ins Segel, blähte es fast bis zum Zerreißen und trieb uns vorwärts – verhalten zunächst, doch dann immer schneller und schneller. Wir sahen, wie Lord Eachann hastig aus dem Meer gefischt wurde, wie seine Eunuchen wild rudernd die Verfolgung aufnahmen und wie sie dann vor Enttäuschung brüllend aufgaben. Vor Erleichterung lachend und gleichzeitig weinend, fiel ich William um den Hals, wir tanzten ausgelassen auf dem Schiff herum, das mit windgefülltem Segel übers Meer glitt.
Beinahe gleichzeitig hielten wir inne und lösten uns wieder voneinander.
»Und nun?«, fragte ich William leise. »Wohin fahren wir jetzt?«
»Nach England«, kam die Antwort.
»England? Und was willst du dort tun?«
»Was wohl?« Ein entschlossener Ausdruck trat in seine Augen. »Endlich den heiligen Donnan von Eigg verscherbeln.«
Ich streifte den Knochensack mit einem flüchtigen Blick. Waren es die Gebeine des Märtyrers, die uns all die Schrecken beschert hatten? »Bestimmt liegt ein Fluch auf ihm«, flüsterte ich ängstlich.
»Unsinn.« William der Erste packte das Ruder fester.
Weit hinten am Horizont türmte sich eine Wolkenbank auf. Ein neuer Sturm zog auf.
13
Die Weizenkornlegende
K arls Erinnerungen an Marino Faliero waren zwiespältig. Er schätzte ihn als kalt und machthungrig, ja sogar grausam ein, doch auch Klugheit und staatsmännisches Geschick waren ihm zuzuschreiben. Glaubte der Kaiser seinen Beratern, so stand Falieros herausragende Machtposition in Venedig auch jetzt noch außer Zweifel. Angeblich galt es, sie höher einzuschätzen als die des Dogen.
Wie lange war es her, seit ihm der Venezianer die Richtstätte gezeigt hatte, auf der die Irin und der englische Spion verbrannt worden waren? Fünfzehn Jahre? Sechzehn? Oder noch länger? Hier in Venedig holte den Kaiser die Vergangenheit ein. Sinead. Sie hatte ihn und seine Liebe verraten – nicht einmal – nein, zweimal. Ihr Schicksal war verdient, und doch hatte beim Betreten des Markusdoms sein Herz laut geschlagen. Dies war einer der Orte, an dem sie zusammen gewesen waren.
Schon damals war Faliero ein mächtiger Mann gewesen. Er hatte Sineads Schicksal besiegelt, ohne mit der Wimper zu zucken. Er wusste um die grausame Seite der Macht und kannte keine Scheu, sie zu nutzen. Hielt er in der Serenissima immer noch die Fäden in der Hand? Dies herauszufinden war ein Grund für Karls Besuch.
Er diente aber auch anderen Zwecken. Es galt, den Standort Venedigs in einer Welt zu bestimmen, die sich radikal veränderte. Dies betraf alles, sei es die Kunst, die Wissenschaft oder selbst den Krieg. Jahrhundertealte Gesetze wurden
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