Die Knochentänzerin
warfen ihre Netze aus, Boote, beladen mit Waren, fuhren hinauf und hinunter, und die Menschen hatten Stege, Kräne und Wehre in den Fluss gebaut. Der Strom strahlte ernste Betriebsamkeit aus, er floss mit der sturen Stumpfheit eines Zugochsen dahin. Von hier oben wirkte er, obwohl so belebt, langweilig – wie ein mit Psalmengesängen verbrachter Sonntag auf Icolmkill.
Vermisste ich das Meer? Wer mit der See aufwächst, wird immer mit der Sehnsucht nach der unendlichen Weite, dem Wogen, dem Wind und der mit Salz getränkten Luft erfüllt sein – so hatten die Nonnen es mich gelehrt. Der Rhein war das Gegenteil dieser tobenden Wildnis, ein ruhiges, bleigraues Band – wie aus Stein gegossen. Hier konnten die Menschen es sich sogar leisten, Mühlen im Fluss zu verankern. Ein einziger Sturm im gälischen Meer hätte die brückenähnlichen Gebilde als Treibgut an den Klippen der Inseln zerschlagen. Ich horchte in mich hinein. Nein – da war nicht die Spur von Sehnsucht nach Icolmkill in mir, gerade so, als wäre mein Herz kalt wie der Stein, auf dem meine Hände ruhten.
Ich hatte genug gesehen. Die Beschaulichkeit stand der klösterlichen Ordnung, in der ich aufgewachsen war, in nichts nach. Und trotzdem – hier auf der Mauer über dem Rhein und all dem emsigen Treiben Kölns wogte, trotz aller Entbehrungen auf meiner Reise mit William, plötzlich ein überwältigendes Gefühl in mir auf: Freiheit. Die Leitsprüche meiner Erziehung
opus dei
und
ora et labora,
eingezwängt in das klösterliche Korsett der geheiligten Siebenzahl Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper, Komplet – geschnürt und unterbrochen nur von Arbeit und den nächtlichen Vigilien – flogen im grauen Abendhimmel davon. Das Bild der Möwen über den Klippen von Icolmkill tauchte vor meinem geistigen Auge auf. Wie hatte ich ihr müheloses Schweben in den Aufwinden bewundert, wie sehr hatte ich mir immer gewünscht, ebenso frei auf dem Wind zu reiten. Dies war die Sehnsucht meines bisherigen Lebens gewesen: frei dahinzuschweben, losgelöst von allen Ordensregeln, mit einem Schlüssel in den Händen, der nicht nur das verwitterte, eisenbeschlagene Tor des Nonnenkonvents, sondern auch den unüberwindbaren Ring aus Klippen, Stürmen und tosenden Wassern aufschloss.
Nun hatte ich die Mauern erklommen, die diese Stadt einschlossen, und mir schien tatsächlich, als läge mir die Welt zu Füßen. Es war ein erhabenes, großartiges, ebenso wie erschreckendes Gefühl. Alles, alles konnte geschehen, alles war möglich. Das Schicksal lag zum ersten Mal in meinen eigenen Händen. Ich lief über den Wehrgang, nein ich lief nicht, ich schwebte, und wäre mir nicht ein Soldat der Stadtwache mit Helm, Hellebarde und weiß-rotem Wams begegnet, der mich erst misstrauisch beäugte, bevor er mir in seiner fremden Sprache vermutlich befahl, die Mauerkrone zu verlassen, ich hätte vielleicht tatsächlich geglaubt, ich könnte mich in die Luft erheben und mit dem Wind davonfliegen.
So aber stieg ich hinab, erreichte die Gassen Kölns und stellte zweierlei fest: Erstens: Ich war eine Fremde in dieser Stadt, ich verstand die Sprache der Menschen nicht und besaß nichts, außer den Kleidern an meinem Leib. Zweitens: Bereits nach kürzester Zeit hatte ich mich in den verwinkelten Gassen hoffnungslos verirrt.
Es gibt keinen Zufall, so lautete die Lehre der Schwestern auf Icolmkill. Gott der Allmächtige allein bestimmt unser aller Schicksal, und der Weg eines jeden Menschen ist von ihm vorgezeichnet. Gleichwohl ist ein jeder für sein Tun und Handeln verantwortlich. Dies ist mir bis zum heutigen Tag ein Rätsel, heißt es doch, der Herr selbst entscheidet, dass einer zum Mörder wird und dass der Mörder dafür in alle Ewigkeit in den Feuern der Hölle schmort. Die Wege des Herrn sind unergründlich, lautete die gängige Antwort auf meine Frage, wie eine solche Logik zu erklären sei. Ich bekam Prügel und wurde von Äbtissin Matilda eigenhändig ins Verlies gesperrt, als wohlgemeinte Anregung zum Nachdenken. Allein die Frage war blasphemisch und gotteslästerlich, das wurde mir in der Dunkelheit und feuchten Kälte des Klosterkellers klar.
War es also Gottes Wille, dass mir in all dem Trubel und in all meiner inzwischen verzweifelten Verlorenheit darin ausgerechnet William begegnete? Sein Blick, als er mich entdeckte, wie ich herumirrte, drückte zunächst Zweifel aus, dann umwölkte sich seine Stirn. Er war in Begleitung zweier zwielichtiger Gestalten, die er mit einer
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