Die Knopfmacherin
Melisande beklommen. Vielleicht hätte ich mich besser beherrschen sollen? Doch wie hätte ich das tun sollen?
Katharinas eisiger Blick wurde allerdings zur Nebensache, als sich die Prozession endlich dem Dom und damit ihrem Standort näherte. Während ringsherum Jubel aufbrandete und Bernhard den Hals reckte, um den Bischof auf seinem Pferd zu sehen, berührte jemand sie am Arm. Zunächst gab Melisande nichts darauf, doch dann vernahm sie neben sich ein Flüstern.
»Junges Fräulein.«
Die Stimme ließ das Mädchen erstarren. Langsam wandte sie sich um. Der Anblick des Mannes ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Hinter ihr stand Joß Fritz. Obwohl er sein kurzes Haar unter einer Gugel verbarg und einen Bart trug, erkannte sie ihn sofort.
»Was sucht Ihr hier?«, wisperte sie.
Der Mann legte einen Finger an die Lippen, dann flüsterte er: »Ich muss Euch sprechen. Allein.«
»Wir haben uns nichts zu sagen«, entgegnete Melisande abweisend.
»Wartet!« Joß’ Hand schnellte vor.
»Was wollt Ihr noch?«, fragte Melisande wütend und riss sich los. »Wenn es Euch danach gelüstet, Euch in Gefahr zu begeben, warum geht Ihr dann nicht gleich zum Bischof?«
»Bitte seid leise!«, zischte Joß ihr zu. »Ich weiß, wo Eure Schwester ist.«
Melisandes Augen brannten vor Zorn. Erst im nächsten Augenblick begriff sie, was er da gerade gesagt hatte.
»Wo?« Das Wort ging im Jubel der Menschenmenge unter, doch Joß las es ihr von den Lippen ab.
»Kommt bitte mit mir, damit wir ungestört reden können.«
Melisande spähte zu Bernhard hinüber, der noch immer den Bischof beobachtete. Es ist ja nur für einen Augenblick, sagte sie sich, dann nickte sie Joß zu.
Sie schlängelten sich durch die Menschenmenge, die sich um den Domnapf drängte, und verschwanden hinter einem Haus ganz in der Nähe.
»Also, wo ist Alina?« Eigentlich wollte sie wütend klingen, aber Melisandes Stimme war voller Sorge.
»Ich habe sie in einem Hurenhaus an der Stadtmauer gefunden. Die Besitzerin ist eine alte Vettel namens Hilde Talmüller.« Das hatte Joß nach seinem Besuch in Erfahrung gebracht. »Ihr könnt das Haus nicht verfehlen.«
Seine Worte trafen Melisande wie eine Ohrfeige. Ihre Schwester in einem Hurenhaus! So erleichtert sie war, dass Alina noch lebte, so entsetzt war sie über den Aufenthaltsort.
»Wie ist sie da hingekommen?«
»Wahrscheinlich hat sie der Anführer des Trupps, der Euer Haus überfallen hat, dorthin verkauft.«
Melisande schwankte. Warum hat Gott das nur zugelassen?, fragte sie sich, während Schwindel sie erfasste.
Als sie zur Seite kippte, fing Joß Fritz sie auf. »Alles in Ordnung mit Euch?«
Melisande schüttelte den Kopf. Ihr war hundeelend zumute. Wie sollte sie Alina nur aus den Fängen einer Hurenwirtin befreien?
»Ihr solltet versuchen, sie auszulösen«, schlug Fritz vor, der offenbar spürte, welche Frage ihr am dringendsten auf der Seele brannte. »Die Hurenwirtin ist geldgierig. Für den richtigen Preis wird sie Alina herausgeben.«
»Sie dürfte eigentlich gar nicht dort sein.« Melisande rappelte sich wieder auf. Ihre Knie waren zwar immer noch weich, taten jetzt aber wieder ihren Dienst.
»Ich weiß. Gott wird den Mann, der das getan hat, gewiss strafen.«
»Mir wäre es lieber, er würde auf andere Weise bestraft. Gott war in letzter Zeit nicht besonders freundlich zu mir und meiner Familie.«
»Dennoch dürft Ihr nicht aufhören, an ihn zu glauben«, entgegnete Joß mit einem aufmunternden Lächeln. Dann lenkte etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich. Während sich seine Miene verfinsterte, zog er sich die Gugel tiefer ins Gesicht, damit nur noch sein Bart zu sehen war.
»Ich muss jetzt los. Wenn Ihr mich sucht, kommt zum Haus des alten Petrus Wagemeier. Und erwähnt um Himmels willen meinen Namen niemals öffentlich. Gehabt Euch wohl, junge Brucknerin.«
Damit wandte er sich um und verschwand in der Menschenmenge. Melisande sah ihm an die Wand gelehnt nach, unfähig, sich zu bewegen. Alina im Hurenhaus. Gab es etwas Schlimmeres? Sicher, noch schlimmer wäre es gewesen, wäre sie tot, doch das Hurenhaus musste die Hölle auf Erden sein.
Mit tränenfeuchten Augen blickte Melisande zum Himmel auf, der sich klar und tiefblau über Speyer spannte.
Vater, wenn du wüsstest, was Alina zugestoßen ist … Bitte verzeih, dass ich es nicht verhindern konnte.
Schließlich fühlte sie sich so weit gefestigt, um zur Domplatte zurückzukehren. Als sie in Gedanken versunken
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