Die Knopfmacherin
Häuser, erschien ein erster morgendlicher Silberstreif. Das Waschwasser in der Schüssel war eiskalt, dennoch ließ das Mädchen es sich nicht nehmen, die morgendliche Wäsche zu tätigen, bevor es in die Kleider schlüpfte.
In die Küche ging sie jedoch noch nicht. Sie entzündete die Kerze und hockte sich vor das Pergament auf den Boden. Dann schloss sie die Augen und versuchte, sich Alinas Gesicht in Erinnerung zu rufen.
Seltsamerweise waren es keine Bilder, sondern Worte, die ihr als Erstes in den Sinn kamen. Und das Lachen ihrer Schwester. Eine ganze Weile wollten die Gesichtszüge nicht vor ihre Augen treten. Melisande sah zwar Alinas Haar und den Schwung ihres Rockes beim Gehen, doch nicht die Form ihrer Wangen, der Nase und der Augen. Nur dass die Augen ihrer Schwester grün waren wie die einer Katze, fiel ihr ein.
Seufzend blickte Melisande auf das leere Pergament. Sie hatte gewusst, dass es nicht leicht werden würde, aber sie hatte eher damit gerechnet, dass die Angst und die Trauer sie vom Zeichnen abhalten würden. Angst um Alina hatte sie tatsächlich, doch das war nicht der Hinderungsgrund. Ihre Augen konnten die Jüngere einfach nicht sehen.
Nachdem sie es erneut versucht hatte, ließ sie resigniert die Hand sinken. Was bin ich für eine Schwester, dass ich mich nicht mal mehr an ihr Gesicht erinnere …
Niedergeschlagen stieg sie in die Küche hinab, die verlassen und leer dalag. Der Wind, der durch die Fensterläden drang, wirbelte die Asche in der Esse auf.
Um sich die Zeit zu vertreiben, verließ Melisande mit zwei Wassereimern das Haus. Grete würde es sicher schätzen, wenn sie ihr den Gang abnahm.
Als sie zurückkehrte, traf sie auf Bernhard. Sein Haar war zerzaust, und sein Hemd wirkte noch etwas unordentlich. Er sah so aus, als hätte ihn irgendetwas aus dem Schlaf gerissen.
»Da bist du ja!«, sagte er, als sie die Küchentür hinter sich schloss und die Eimer auf dem Boden abstellte. »Dachte schon, du wärst heute Nacht nicht nach Hause gekommen.«
»Nicht so laut!«, zischte Melisande ihm zu. »Der Meister darf davon nichts wissen.«
»Der Meister ist noch gar nicht auf den Beinen«, entgegnete Bernhard und strich sich die Haare glatt. »Hast du das Pergament gefunden?«
Melisande nickte. »Ja, hab vielen Dank.«
»Und, hast du sie schon gezeichnet?«
Die Frage versetzte ihr einen Stich. »Nein, bisher nicht. Ich …«
Dem Jungen gegenüber zugeben, dass sie Alinas Gesicht nicht vor ihr geistiges Auge rufen konnte, wollte sie nicht. Vielleicht bin ich auch zu müde, dachte sie.
»Du solltest dich beeilen. Heute wird mich der Meister sicher wieder auf einen Botengang schicken. Da kann ich gleich Ausschau nach ihr halten.«
Als ob diese Kerle sie frei herumlaufen lassen würden, dachte Melisande wütend, doch sie verbarg ihre Gefühle, denn sie wollte nicht, dass Bernhard sie falsch verstand. Sie war ihm sehr dankbar, dass er sich die Mühe machen wollte.
»Ich versuche es später noch einmal.«
Als sie an ihm vorbei wollte, umfasste Bernhard sanft ihren Arm und hielt sie zurück. »Wir werden deine Schwester finden, das verspreche ich dir.«
Melisande nickte und konnte nicht verhindern, dass Tränen in ihr aufstiegen. Sie schloss die Augen und spürte wenig später Bernhards Hand auf ihrer Wange. Sanft strich er ihr die Träne von der Haut.
»Nun weine doch nicht«, sagte er sanft. »Wenn sie hier in der Stadt ist, wird Gott uns schon zu ihr führen.«
Melisande wusste, dass er eigentlich etwas anderes sagen wollte. Wenn Alina noch lebte, würde Gott sie zu ihr führen. Doch wenn nicht?
»Soll ich dir noch eine Feengeschichte erzählen? Oder etwas über die Kranichschnäbler im Orient?«
Eigentlich wollte Melisande schon ablehnen, aber dann überlegte sie es sich anders. »Du kannst mir tatsächlich etwas erzählen«, sagte sie, als ihr wieder einfiel, was sie vergangene Nacht beobachtet hatte. »Weißt du, wem das Haus in der Nähe des Doms gehört?«
Bernhard blickte sie unverständig an. »In der Nähe des Doms stehen viele Häuser.«
Als Melisande ihm die genaue Lage beschrieb, zog er die Augenbrauen hoch.
»Dieses Haus gehört zum Judenviertel, aber die Bewohner sind fast alle fort. In Speyer gibt es nach dem Pogrom kaum noch Juden, und wenn, dann sind sie zum Christentum konvertiert. Die Gebäude in der Gegend stehen alle leer.«
»Offenbar nicht so leer, wie man denkt.« Melisande verstummte, als sie ein Knacken vernahm. Kam der Meister herunter? Oder
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