Die Koenigin der Schattenstadt
dazu benutzt, die Flughöhe des Falken zu messen. Keinen Tag war das erst her, doch ihm kam es vor, als sei es in einem anderen Leben passiert.
Jordi raste los – dem Kubus hinterher, der unruhig an einem kettenartigen Seil hin und her schwang. Ihn zu fangen war nicht so einfach, wie es aussah. Es brauchte einige Anläufe, ehe es Jordi gelang, den Würfel zu fassen. Doch dann endlich bekam er ihn zu packen. Hastig wickelte er sich das Seil um den Unterarm, griff den Kubus und wurde auch schon mit Schwung in die Höhe gerissen.
Ein weiteres Gesicht erschien oben in der Luke. Bleich war es, mit ernsten Augen und einem Spitzbärtchen, das nicht mehr ganz so ordentlich aussah wie noch Tage zuvor, als Kopernikus dem Jungen über den Weg gelaufen war.
»Jordi!«, rief er.
Das Seil mit dem Kubus und dem Jungen wurde nach oben gezogen.
Der Falke gewann an Höhe.
Jordi schnellte auf die Luke zu.
Kopernikus und Kamino packten ihn gleichzeitig bei den Schultern und zerrten ihn in die Flugmaschine hinein. Jordi kroch ein Stück weit von der Luke weg und dann spürte er auch schon, wie der Falke an Geschwindigkeit gewann.
»Wir haben ihn!«, rief Kamino in den Raum hinein. Jordi wusste, dass es ein Sprachrohr gab, das ihre Stimme hinauf ins Cockpit des Falken zu Kapitän Cortez leiten würde.
»Dann nichts wie los!«, ertönte die blecherne Antwort.
Die Welt kippte und Jordi rutschte gegen die nächstgelegene Wand, an der sich runde Öffnungen mit Routenkarten darin befanden. Erschöpft blieb er dort liegen und schnappte nach Luft. Kopernikus warf die Luke zu.
»Du hast Cortez gehört«, rief er ihm zu. »Halt dich lieber fest!«
Geschickte Manöver
Draußen heulten die Seufzerstürme laut auf, als sie den Falken in die Höhe hoben und durch das Loch in der Wolkendecke schleuderten. Die uhrenartigen Instrumente, die sich überall an den Wänden befanden, ließen die Zeiger in wilden Kreisen laufen und die Ventile, die sich an den Rohren aus Bronze angebracht waren, zischten hektisch auf und stießen feine Dampfwölkchen in den Raum.
Vor Jordis Augen drehte sich alles. Noch war er viel zu verwirrt über das, was geschehen war, um einen klaren Gedanken zu fassen.
Kamino Regalado war plötzlich an seiner Seite, umarmte ihn stürmisch. »Meine Güte, du lebst! Wir hatten schon das Schlimmste befürchtet.« Die lange Narbe in ihrem Gesicht leuchtete im flackernden Schein der Bordlampen. »Ich hatte solche Angst und . . .« Sie hielt erschrocken inne und stand auf. Offenbar war sie selbst überrascht von ihrer Reaktion. »Ich meine . . . wo bist du nur gewesen?«
Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Es war so viel passiert, dass er gar nicht wusste, wo er beginnen sollte. »Wie habt ihr mich gefunden?«, fragte er das Bootsmannmädchen stattdessen.
Kopernikus kniete sich neben ihn. Er hatte einen Becher mit kühlem Minztee in der Hand, den er Jordi reichte. Dankbar griff der Junge danach und trank in gierigen Zügen. Aber selbst als er ein zweites Mal sein Glas geleert hatte, wollte der Geschmack des Feuers nicht von seiner Zunge verschwinden.
»Wir haben nicht gewusst, wo du bist«, sagte Kopernikus. »Ganz im Gegenteil: Die Zigeunerhexe Makris de los Santos glaubte, dass deine Freundin Catalina zu diesem Ort kommen würde. Sie war es, die wir eigentlich gesucht haben.«
Jordi rappelte sich auf und kam im schwankenden Frachtraum des Falken zum Stehen. Kamino musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen.
»Geht’s?«, fragte sie kurz.
Er nickte, immer noch erschüttert von dem, was gerade passiert war, und wischte sich über die Augen.
»Wo ist sie?«, fragte er und blickte sich um. »Wo ist diese . . . diese Makris?« Er erinnerte sich an die junge Frau, die er an Catalinas Seite auf den flüsternden Märkten gesehen hatte.
»Die Zigeunerhexe ist nicht bei Bewusstsein«, sagte Kopernikus. Er sah müde aus, seine dunklen Haare standen wirr von seinem Kopf ab und er hatte tiefe Schatten unter den Augen. Seine Hand, die Jordis leeres Glas entgegennahm, zitterte.
»Der Zigeunerhexe ist etwas zugestoßen«, erklärte Kamino. »Etwas Seltsames.«
Kopernikus nickte. »Sie schläft. Wir mussten sie festbinden.«
»Festbinden?«
»Am Bett. Damit sie während des Flugs nicht herausfällt.«
»Bevor ihr dieses Unglück widerfahren ist, hat sie uns aufgetragen, zur Alfama zu fliegen. Aber anstelle von Catalina haben wir dich gefunden.«
»Catalinas Großmutter hat mich dort hingebracht«, stammelte Jordi und
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