Die Königin ist tot: Roman (German Edition)
Handrücken. Er bemerkt meine Kostümierung, steh auf, sagt er, bitte, und ich stelle mich vor ihn hin und lächle, streiche die Haare zurück, wie es mir entspricht. Und irgendwo in meinen abgeschiedeneren Regionen spüre ich einen sich ausbreitenden fiebrigen Infektionsherd.
Und er sagt, nett sei das, aber nicht mehr dasselbe, das verstünde ich sicher nicht falsch, aber die zwei Kinder (gut, dass er mich erinnert, manchmal vergesse ich, dass ich Mutter bin), und überhaupt, ganz generell, und ich gehe, gehe aus dem Haus, ich weiß nicht, wo ich hingehen soll, die Frage ist immer nur, nach links oder nach rechts, in jedem Fall den Strand entlang, und ich passiere die Sicherheitsschranken Richtung Meer. Ich habe übrigens auch gänzlich falsche Schuhe an, wie das nach spätestens zwei Schritten in den Dünen offensichtlich wird, als ich schlicht nicht mehr weiterkomme mit den einsinkenden Stöckeln, ich ziehe sie aus und trage sie mit mir, der raue Sand wird mir die abgeschliffenen Fußsohlen durchbohren, die ausgedünnte Haut, doch was tut mir das. Ich weiß, dass ich ein (einigermaßen teuer eingekauftes) Möbelstück bin, das habe ich schon bald verstanden, das versteht sich von selbst. Und wenn ich jetzt die Fußteile ein wenig beschädige, ist das nicht so schlimm, das repariert sich beinahe von selbst, ich bin ein Möbelstück mit garantierter Selbstreparaturfähigkeit, zumindest im Rahmen der naturgesetzlich vorgegebenen Lebenserwartung. Ich erreiche den Strand und stehe nun wirklich vor der Entscheidung: links oder rechts, das ist in etwa mein Handlungsspielraum. Weil ich mich nicht entscheiden kann, werfe ich die Schuhe ins Meer, nicht mehr mich selbst, davon habe ich anscheinend genug, aber ich weiß es nicht so genau, ich beobachte nur. Mit Hingabe, möchte ich sagen, tue ich das, mit hingebungsvollem Hass, den ich so an mir nicht gekannt habe, aber jetzt, wo ich dastehe und den Schuhen bei ihrem Untergang zusehe, einem nach dem anderen, und friere unter der viel zu dünnen Jacke und einem dunklen Himmel, den der Wind pflügt, scheint er mir auf einmal so selbstverständlich ein Teil von mir zu sein, so vertraut, dass ich mich wundere, dass ich diese Tröstung nicht schon früher entdeckt habe: ich bin geborgen im Hass wie die Kinder in Gottes Hand. Da ist ja Gott schon wieder. Wo kommt der auf einmal her, und dann so hartnäckig? Ich setze mich an die Festlandkante, dorthin, wo der Sand feucht wird, die Füße im wandernden Saum angespülter Muscheln und Algen, und bilde mir ein, von Zeit zu Zeit Musikfragmente zu hören, wie etwa von einem in hundert Metern Entfernung spielenden Akkordeon. Doch wer sollte Akkordeon spielen am Strand an einem derart unwirtlichen Abend. Wenn ich mich konzentriere, kann ich so tun, als fröre ich nicht. Ich kann sogar mitsingen: es war in meines Lebensweges Mitte. Und vielleicht stelle ich mir vor, dass da eine spezielle, speziell dunkle Welle sich auftürmt, die kommt und sich in Richtung Strand wälzt, nur für mich.
Der Tod ist ja nichts Unnatürliches. Hätte ich tatsächlich eine Vergangenheit als Turmangestellte, hätte ich sicher gerne Zweizeiler aufgesagt.
Es war in meines Lebensweges Mitte
Und dann fehlt mir wieder die zweite Zeile. Und diese Fehlstelle hilft mir, wenn ich mir vorstelle, dass das Stehen in der Lifthalle eine Ganztagsbeschäftigung hätte sein können. Sein könnte, immer noch. Mehr denn je, wenn auch nicht für mich. Ich bin heute zu alt für sowas, da kann ich noch so sehr lächeln und nicken, die Liftgirloption ist ausgereizt. Ein anderes Leben, in dem ich mich mit Peters Rückenansicht beschäftigen wollen würde (scharfkantiger denn je), die ich allerdings von meinem Platz in der Lifthalle nicht sehen könnte; und ich weiß schon, dass seine Verachtung für mich nicht mehr steigerbar ist. Nur Jeremias, der als Portier mein direkter Vorgesetzter wäre, hat ein bisschen Mitleid mit mir und versucht sich in gelegentlichen Nettigkeiten: vielleicht kann er ein bisschen Verzweiflung in meinem perfekten Lächeln und meiner sauberen Kleidung erkennen. Dabei gebe ich mir wirklich Mühe, nicht den Halt zu verlieren. Ich hätte ja ein eigenes Zimmer, ein Studio, in dem ich mich abends abschotten, nachfüllen, zustöpseln und verkabeln könnte bis zur Befriedigung sämtlicher Bedürfnisse. Ich liege in meiner Schlafkoje wie ein gekapptes Gehirn in Nährlösung. Ich versuche, mich nicht zu erinnern, was mir nicht schwerfällt, denn ich habe
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