Die Königin ist tot: Roman (German Edition)
Lippen kitzelten, wenn er mich ließe. Die Lippenhaut ist ja so dünn. Wie herrlich still Gewalt sein kann, das sehe ich, auch wenn ich selbst der Gegenstand dieser Gewaltanwendung bin. So wie jetzt, wo er vor mir steht und mich auf Abstand hält, doch seine Wut richtet sich nicht gegen mich. Sie zeigt mir seine Lebendigkeit, auch wenn ich an seinem Haar vorbei (dunkel, voll) ins Bildschirmunendliche sehe und höre, dass drei Kinder getötet wurden, zwei davon mit noch unbekannter Identität. Mein Liebstes, sagt er und betastet seinen Reißverschluss, die Sollbruchstelle der geschäftsmäßigen Männerrüstung.
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Meine Kinder können es nicht sein. Schon deshalb, weil ich nie welche hatte. An mir ist es nicht gescheitert. Es sind die Männer, die keine Kinder wollen. Diese Hypothek auf zukünftige Möglichkeiten erscheint ihnen unzumutbar, denke ich. Der unverfälschte Quelltext wird zugänglich zu machen sein, den Teil übernehme ich. Gleich. Und zwar in meiner Eigenschaft als Inside Source: innen liegende Quelle. (Wenn das Rudel neu übernommen wird, beißen die neuen Männchen die alten Jungen tot.) Ich sehe bäuchlings aufschwimmende Kinderkörper.
Der Turm ist autark, eine vertikal geschichtete autarke Ansiedlung, und oben ist der natürliche Herrschaftsbereich samt privatem Helikopterlandeplatz; ich darf nicht vergessen, die Nettozahlenden von den Stadträndern zu holen und aus der Südstadt, und zwar in ausreichender Menge. Die stellen das Publikum. Dann werde ich einfach aus dem Turm aussteigen. Wie kann es aus dem Kanaldeckel rauchen, wenn doch der Wasserdruck steigt? Wasserfontäne, meinen sie wohl. Ich meine: Wasser kann aus dem Kanaldeckel kommen, kein Grillkohlenrauch. Wasser, das die stillgelegten Röhren eines längst aufgegebenen unterirdischen Transportsystems (Rohrpostsystems) geflutet hat, dort kein Auslangen mehr findet und sich vermischt mit all den Abwässern aus den Kanälen darüber. Den Dreck nimmt es wie immer mit beim Aufstieg.
Ich sähe Ann gerne gewinnen. Was in mir kann so denken? (Siehst du, Ann, diese Frage habe ich nicht gelöst.)
Den Dienstleistungschip an die Navigationsleiste des Transportlifts halten; nein, Stiege, Tür, so war das. Das verbotene letzte Stockwerk betreten: das Dach, auf dem der Wind ein lauer Nachtwind sein müsste. Der Turm sackt ab, das spürt man. Kein Wunder bei all dem Wasser in der Verankerung der Fundamente, wie sollen die sich halten, wenn dem Hochhauswurzelwerk die Erde zwischen den Zehen davon gespült wird, das denke ich mir, was für eine dumme Annahme, dass Stahlbeton so fest verankert ist, dass ihm die Konsistenz des Untergrunds nichts anhaben könnte. Wenn der Untergrund nachgibt wie Gelee, wie Sandpudding, dann muss ich nicht dem See entgegentreten, der kommt von alleine, die Transportkanäle endlich vom märzgrünen Flusswasser geflutet; das Leck schon vor Monaten gemeldet, doch die Stadtverwaltung hat sorgfältig das Für und Wider der kostengünstigsten Gegenmaßnahmen erwogen. So ist wochenlang nichts weiter geschehen, als dass man den Fluss der Jahreszeit und den irischen Bevölkerungswurzeln zuliebe grün eingefärbt hat, was sich aber jetzt bezahlt macht, denn das Wasser, das in die Keller dringt, ist immer noch ein bisschen frühlingsgrün; es riecht nur nicht mehr ganz so gut, das lässt sich sogar von hier oben feststellen.
Der Turm wird nicht kippen, und vor allem wird das Licht nicht ausgehen, der Turm neigt sich, verneigt sich demütig vor der Weite des Sees, und ich steige hinauf aufs Dach und steige aus; wenn der Rumpf in die Knie geht, ist es erforderlich, dass man aussteigt. Man fällt auch nicht mehr, wie denn auch, oben und unten sind nicht so eindeutig zu bestimmen, deshalb werde ich aussteigen und erst einmal die Kante suchen, an der die Schwerkraft angreift. Die Notstromversorgung hält ihr Versprechen. Mit einem letzten stillen Leuchten setzt der Turm mich über der Wasseroberfläche ab, damit ich schwimmen kann, kurz bevor er sich flach und splitternd in den See legt und die Blechgestänge des Vergnügungsparks unter sich begräbt.
Bitte sehr: der Quelltext.
Über die Autorin
Olga Flor
Olga Flor, geboren 1968 in Wien, aufgewachsen in Wien, Köln und Graz, lebt in Graz. Sie studierte Physik und arbeitete im Multimedia-Bereich. Seit 2004 freie Schriftstellerin. Ihr erster Roman Erlkönig erschien im Frühjahr 2002, zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften (z.B.: manuskripte, Lichtungen, Kolik,
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