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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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gemalt, einen Strich für jeden Tag, den wir schon hier sind. Mit Daumen und Zeigefinger, die ihm an einer Hand noch geblieben sind, hält er einen Pastellstift und macht einen Strich für jeden Tag, an dem Schwester Vigilante den Strom anstellt.
    Agent Plaudertasche rollt mit dem rosa Bauchtrainer auf dem Steinfußboden herum, um noch mehr Gewicht zu verlieren.
    Der Heizkessel ist mal wieder kaputt. Auch der fürs Wasser. Die Toiletten mit Popcorn und toter Katze verstopft. Aus Waschmaschine und Wäschetrockner hängen herausgerissene und gekappte Kabel und Schläuche.
    Die Leute pinkeln in eine Schüssel und tragen sie zu einem Waschbecken. Oder sie heben den Rock und hocken sich zum Pissen in einen dunklen Winkel.
    So wie wir in unseren samtenen Märchenkostümen und Perücken in diesen hallenden kalten Gemächern einen Tag nach dem anderen totschlagen und im Gestank von Pisse und Schweiß leben, genau so sah das elegante Hofleben der Aristokratie vor zweihundert Jahren aus. Alle diese Paläste und Schlösser, die in der heutigen Filmversion so vornehm und sauber aussehen: In Wirklichkeit waren das damals stinkende, kalte Neubauten.
    Der Killerkoch erzählt, die Küchen in den französischen Chateaux waren von den herrschaftlichen Speiseräumen so weit entfernt, dass das Essen schon kalt war, wenn es serviert wurde. Deswegen haben die Franzosen ihre vielen dicken Saucen erfunden: Sie dienen als Warmhaltedecken, damit das Essen auf dem Weg zum Tisch nicht so sehr abkühlt.
    Und wir haben aus dem Müll aufgelesen: eine Bowlingkugel, einen Bauchtrainer, die Katze.
    »Unsere Menschlichkeit bemisst sich nicht danach, wie wir andere Menschen behandeln«, sagt Missing Link. Er streicht über die Katzenhaare auf seinem Ärmel und sagt: »Unsere Menschlichkeit bemisst sich danach, wie wir die Tiere behandeln.«
    Er sieht Schwester Vigilante an, die auf ihre Armbanduhr schaut.
    In einer Welt, in der die Menschenrechte mehr Gewicht haben als in jeder anderen Epoche der Geschichte... in einer Welt, wo der allgemeine Lebensstandard einen Gipfelpunkt erreicht hat... in einer Kultur, in der jeder Einzelne für sein Schicksal persönlich verantwortlich gemacht wird - in dieser Welt, sagt Missing Link, werden Tiere rapide zu den letzten wirklichen Opfern. Zu Sklaven und Beute.
    »Über die Tiere«, sagt Missing Link, »definieren wir uns als Menschen.«
    Ohne Tier keine Menschlichkeit.
    In einer Welt, wo es nur Menschen gäbe, würde der Mensch nichts bedeuten ...
    »Vielleicht war es das, was die Leute in der Villa Diodati davon abgehalten hat, sich gegenseitig umzubringen, als sie bei diesem endlosen Regenwetter immer nur im Haus herumsitzen konnten«, sagt Missing Link.
    Weil sie ihre vielen Hunde und Katzen und Pferde und Affen hatten, haben sie sich wie Menschen benommen.
    Missing Link sieht Miss America an, ihre roten Augen, ihr von Fieberschweiß bedecktes Gesicht, und sagt, in der Zukunft werden dieselben Leute, die heute vor den Kliniken demonstrieren die Pappschilder hochhalten, auf denen lächelnde Babys zu sehen sind, die werdende Mütter beschimpfen und anspucken - in dieser elenden übervölkerten Welt der Zukunft, sagt Missing Link, werden ebendiese Leute gegen die wenigen egoistischen Frauen wettern, die immer noch Kinder bekommen wollen.
    In dieser zukünftigen Welt, in der Welt außerhalb dieses Gebäudes, wird es Tiere nur noch im Zoo und im Kino geben. Oder als Geschmack beim Essen: Huhn, Rind, Schwein, Lamm oder Fisch.
    Miss America hält sich den Bauch und sagt: »Aber ich musste was essen.«
    »Ohne Tiere«, sagt Missing Link, »wird es zwar noch Menschen geben, aber keine Menschlichkeit.«
    Mutter Natur betrachtet ihren Verlobungsring, Lady Tramps dicken Diamanten an ihrem dünnen Finger, und sagt: »Was du da über Leute gesagt hast, die gegen Babys demonstrieren... das ist so schrecklich. Du hörst dich an wie Genossin Snarky.«
    Das vierte Gespenst in diesem Haus.
    »Ich stimme dir zu«, sagt Sankt Prolaps und sieht sie an. »Babys sind... wunderbar.«
    Mutter Natur und Sankt Prolaps - immer noch unsere romantische Nebenhandlung.
    Missing Link hebt die Hände und schüttelt die Ärmel herunter. Er presst an jede Schläfe einen Zeigefinger und sagt: »Dann nehme ich jetzt Kontakt zu ihr auf.« Zu Genossin Snarky. Und zu Mr. Whittier, der sagt, die Menschen müssen die triebhaft-animalische Seite ihres Wesens akzeptieren. Wir müssen unsere Kampf- oder Fluchtreflexe ausleben können. Diese Fähigkeiten,

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