Die Kolonie
Rendezvous.
Jetzt schrammt sie am Sechser vorbei und sagt: »In Anthropologie bin ich besser als im Billard.« Sie kreidet die Queuespitze ein und sagt: »Kennst du das Wort varulf ? Oder einen gewissen Gil Trudeau? General Lafayettes Berater während der Amerikanischen Revolution?« Mandy Soundso reibt den blauen Kreidewürfel an der Spitze ihres Queues herum und sagt: »Oder hast du schon mal den französischen Ausdruck loup-garou gehört?«
Und lässt mich dabei nicht aus den Augen. Taxierend. Auf der Suche nach einer Antwort. Einer Reaktion.
Der anthropologische Teil von ihr ist es, der ausgehen und sich mit Leuten treffen möchte. Sie ist aus New York City hierher gekommen, aus New York, bloß um Männer aus dem Chewlah-Reservat kennen zu lernen. Ja, das ist rassistisch, sagt sie. »Aber positiv rassistisch. Ich finde Chewlah-Männer einfach scharf...«
Mandy Soundso beugt sich über ihren Hamburger, beide Ellbogen auf dem Tisch, das Kinn in eine Hand gestützt, während sie mit der anderen ein unsichtbares Muster auf die fettige Tischplatte zeichnet. Sie sagt, die Männer des Chewlah-Stamms sehen alle gleich aus.
»Chewlah-Männer haben alle einen großen Schwanz und einen Sack im Gesicht.«
Damit will sie sagen, Chewlah-Männer haben ein kräftiges, leicht vorstehendes, tief gespaltenes Kinn, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Hodensack hat. Chewlah-Männer sind immer unrasiert, auch unmittelbar nach der Rasur.
Mandy Soundso nennt das den »Fünf-Minuten-Bart«.
Chewlah-Männer haben nur eine Augenbraue, ein schwarzes schamhaarartiges Gestrüpp über der Nasenwurzel, das sich nach beiden Seiten bis fast zu den Ohren erstreckt.
Zwischen diesem wuchernden schwarzen Gekräusel und dem geballten Stoppelkinn befindet sich die Chewlah-Nase. Ein Kolben von beachtlicher Größe. Dick und so lang, dass die Spitze den Mund verdeckt. Eine Chewlah-Nase reicht fast bis zu dem borstigen Kinn herab.
»Die Braue verbirgt ihre Augen«, sagt Mandy. »Die Nase verbirgt den Mund.«
Wenn man einem Chewlah-Mann begegnet, sieht man als erstes Schamhaare, einen großen, halb erigierten Schwanz und die Eier, die darunter hängen.
»Wie Nicholas Cage«, sagt sie, »aber extremer. Wie ein Schwanz und Eier.«
Sie isst eine Fritte und sagt: »Daran kann man erkennen, ob ein Mann gut gebaut ist.«
Der Tisch ist mit Salz bestreut, das sie sich auf die Fritten geschüttet hat. Sie will mit einer American-Express-Karte bezahlen, deren Farbe der Kellner noch nie gesehen hat. Titanium oder Uranium.
Ihre Dissertation hat sie hierher gebracht. In Manhattan, in Gesellschaft all dieser kichernden Anthropologiestudenten, kann man die Arbeit an so einem Thema nicht lange ertragen und ergreift gern die Gelegenheit, wenn einem geraten wird, ein bisschen Feldforschung zu betreiben. Ihr Feld ist die Kryptozoologie. Die Lehre von ausgestorbenen oder sagenhaften Tieren, wie zum Beispiel Bigfoot, das Ungeheuer von Loch Ness, Vampire, der Puma von Surrey, Mothman, der Teufel von Jersey. Tiere, die es gibt oder auch nicht. Es war die Idee ihres Fachberaters, sich hier im Chewlah-Reservat einmal umzusehen, sich mit dieser Kultur zu beschäftigen und ein bisschen forensische Routine kennen zu lernen. Material für ihre Doktorarbeit zu sammeln.
Ihre Augen zucken rauf und runter, warten auf eine Reaktion, auf Bestätigung.
»Gott«, sagt sie und streckt in gespieltem Ekel die Zunge raus. »Höre ich mich an wie eine kleine Möchtegern-Margaret-Mead?«
Ursprünglich hatte sie vorgehabt, in dem Chewlah-Reservat zu leben. Da ein Haus zu mieten oder so was. Ihre Eltern haben beide einen Doktor und möchten, dass sie ihre Träume verwirklicht und nicht so wird wie sie, ganz gleich, wie viel sie dafür bezahlen müssen. Auch wenn sie von sich selbst erzählt, redet Mandy Soundso in der Frageform. Von ihren Eltern sagt sie: »Warum wechseln sie nicht den Beruf? Ist das traurig oder was?«
Jeder ihrer Sätze endet mit einem Fragezeichen.
Ihre Augen, blau oder grau, dann auf einmal silbern, belauern mich immer noch. Ihre Zähne beißen in den Hamburger, der inzwischen längst kalt sein muss. Als ob man was Totes isst.
Sie sagt: »Das Mädchen, das da gestorben ist...«
Dann: »Was meinst du, was ist da passiert?«
In ihrer Dissertation geht es darum, dass überall auf der Welt die gleichen mysteriösen Riesengeschöpfe auftauchen. Diese Riesen, die in den Cascade Mountains bei Seattle Seeahtiks genannt werden. Die in Europa Almas genannt
Weitere Kostenlose Bücher