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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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lässt sie den Knopf auf ihrer Seite los und wartet, dass ich was sage.
    Fürs College war mein Alter nicht helle genug, aber Geld machen, das konnte er. Er kannte Leute, die warteten, bis du für eine Woche in Urlaub gefahren warst; dann rückten sie an und fällten den zweihundert Jahre alten Walnussbaum in deinem Garten. Zerlegten ihn gleich an Ort und Stelle. Erzählten den Nachbarn, du hättest sie selbst bestellt. Und wenn du wieder nach Hause kamst, lagerte dein Baum schon als Bretterstapel in irgendeiner Fabrik ein Dutzend Bundesstaaten entfernt. Falls er nicht schon irgendwo als Möbel diente.
    Eine solche Chuzpe macht Collegemenschen eine Heidenangst.
    Mein Alter hatte seine Landkarten. Seine Schatzkarten, wie er das nannte.
    Diese Schatzkarten stammten aus den dreißiger Jahren, aus der Zeit der großen Depression. Damals gab es ein Arbeitsbeschaffungsprogramm, und unter anderem wurden von der Regierung Leute angeheuert, die im Land herumfahren und die aufgegebenen Friedhöfe erfassen sollten. Überall, in allen Bezirken und Bundesstaaten. Viele dieser kleinen Friedhöfe wurden da bereits einfach untergepflügt oder verschwanden unter Asphalt. Diese alten Friedhöfe aus der Pionierzeit waren oft das Einzige, was von Ortschaften noch geblieben war, die schon vor hundert Jahren von den Landkarten verschwunden waren. Goldgräberstädte, längst verfallen und in alle Winde verweht. Oder durch Waldbrände zerstört. Erschöpfte Goldminen. Geschlossene Nebenstrecken der Eisenbahn. Und am Ende war von alldem immer nur der kleine Friedhof übrig, ein zugewuchertes Gelände mit umgestürzten alten Grabsteinen. Die Schatzkarten meines Vaters waren die Lagepläne dieser Friedhöfe, mit genauen Angaben über die Zahl der Gräber und den Zustand der Grabsteine.
    In den Sommerferien folgten mein Vater und ich diesen Karten nach Wyoming oder Montana, in die Wüste oder in die Berge, wo ganze Ortschaften vom Erdboden verschwunden waren. Städte wie New Keegan, Montana, von denen nur noch die Grabsteine existierten. Für solche Steine zahlten Gartengeschäfte in den Großstädten gutes Geld. Ob Seattle oder Denver. San Francisco oder Los Angeles. Eine Ladung handgemeißelter Granitengel. Schlafende Hunde oder kleine weiße Marmorlämmer. Die Leute wollten was Altes und Bemoostes in ihren nagelneuen Gärten haben, damit ihr Haus älter wirkte. Damit es so aussähe, als hätten sie schon immer Geld wie Heu gehabt.
    In New Keegan konnte man auf keinem einzigen Grabstein mehr die Aufschrift lesen.
    »Rasiercreme«, sagte mein Vater. »Rasiercreme oder Kreide. Diese verfluchten Friedhofsfreaks.«
    Er erklärte mir, Leute, die sich für Grabsteine interessieren, die unleserliche, von Wind und saurem Regen verwaschene Inschriften lesen wollen, reiben die Oberfläche des Steins mit Rasiercreme ein; schaben den Überschuss mit einem Stück Pappe ab, so dass nur das Weiß in den eingemeißelten Vertiefungen bleibt. Worte und Zahlen sind dann leicht zu lesen und können fotografiert werden. Das Blöde ist nur, dass Rasiercreme Stearinsäure enthält. Und diese Säure, von dem Rest in den Vertiefungen, zerfrisst den Stein. Andere Friedhofverrückte reiben die Steine mit Kreide ein, und von der weißen Oberfläche hebt sich die schwache eingemeißelte Inschrift dann etwas dunkler ab. Diese Kreide ist eigentlich Kalziumsulfat oder Gips, und die pulverigen Bestandteilen geraten beim Einreiben des Steins in alle Ritzen. Und wenn es dann regnet... saugt der Gips das Wasser auf und schwillt zum Doppelten seines ursprünglichen Volumens an. Die alten Ägypter haben mit Holzkeilen die großen Steinblöcke für ihre Pyramiden gespalten, und der gleiche Effekt ergibt sich, wenn das aufquellende Kreidepulver die Vorderfront eines Grabsteins abplatzen lässt.
    Alle diese Erklärungen über Stearinsäure und Kalziumsulfat und die ägyptischen Pyramiden beweisen ja wohl, dass mein Vater kein Idiot war.
    Er sagte, diese Inschriftensammler mögen keine bösen Absichten haben, aber am Ende zerstören sie nur, was sie angeblich lieben.
    Trotzdem, es war ein schöner Tag, dieser letzte Tag mit meinem Vater auf dem Hügel, der früher einmal New Keegan gewesen war. Das tote Gras in der heißen Sonne. Die braunen Eidechsen, von denen einem bloß der Schwanz in der Hand blieb, wenn man sie zu fangen versuchte.
    Hätten wir die Grabsteine lesen können, dann hätten wir erfahren, dass die ganze Stadt innerhalb eines Monats ausgestorben war. Das erste

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