Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kometenjäger: Roman (German Edition)

Die Kometenjäger: Roman (German Edition)

Titel: Die Kometenjäger: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Deckert
Vom Netzwerk:
geworden. Dieser ewigen Sucherei, bei der man lediglich die Realität von Objekten feststellte, die längst eine Nummer im Katalog besaßen. Es war wie Tourismus, ein Abhaken von Sehenswürdigkeiten. Ich musste wieder an Ulrichs Worte denken, über die moderne Astronomie mit ihren Infrarot-Teleskopen, ihren Suchrobotern und adaptiven Optiken. Instinktiv wusste ich, dass er Recht hatte: Tom und ich, wir hatten keine echte Mission. Wir waren nur Wanderer auf ausgetretenen Pfaden.
    In der Ecke des Zimmers sah ich meinen unaufgeräumten Zeichentisch. Wachsmalkreiden und Bleistifte bildeten einen unordentlichen Rahmen, in dessen Mitte ein großformatiger Zeichenblock mit meinen Skizzen aus Toms Observatorium lag. Ich ging hinüber und blätterte sie noch einmal durch: all die kleinen Galaxien, Sternhaufen, Nebel, entdeckt irgendwann im 19. Jahrhundert von echten Forschern am Teleskop. Plötzlich glaubte ich zu verstehen, womit Tom kämpfte: Wenn er auf seiner Leiter stand, dann sah er aus wie einer von ihnen – und vielleicht war er ja auch einer von ihnen, nur zweihundert Jahre zu spät gekommen, in einer Zeit, die für seine Talente keine Verwendung hatte. Er war so stolz auf seine Fähigkeiten, aber er würde sie niemals zu etwas einsetzen können, er konnte sie nur als Bürde tragen, wie ein ewig unerfülltes Versprechen.
    Und galt das alles für mich nicht genauso? Seit Jahren bildete ich mir ein, dass ich eine Art Künstler sei. Aber ich begann niemals etwas. Wahrscheinlich war ich der einzige Künstler der Welt, der sich vor Kunst fürchtete. Fast konnte ich mich durch Veras Augen betrachten. Sie hatte immer ein sehr feines Gespür für Menschen gehabt, die ihr weiterhalfen, emotional und praktisch. Sie erkannte aber auch sofort, wer die Mühe nicht lohnte. Man konnte ihr Kaltblütigkeit vorwerfen – in ihrem streng nutzenorientieren Denken war eine Beziehung wohl so lange wertvoll, wie man etwas »herausziehen« konnte –, aber ihre Menschenkenntnis war unbestechlich. Und die Tatsache, dass sie nun freiwillig auf meine Gegenwart verzichtete, zeigte nur, dass ich tatsächlich etwas verloren hatte. Dass ich mein Pulver verschossen hatte.
    Mein Blick fiel wieder auf die vielen Skizzen in meinem Zimmer, nun auch auf die Bilder an meiner Wand: Mr. Lamarre und der Krater und die Comicfiguren. Tom und ich, wir waren wie Brüder. Warum wohl hatte er ausgerechnet mir alles gezeigt – sein Observatorium, sein wertvolles Teleskop, seine Pläne? Er hatte mich ausgewählt und ich ihn, weil wir uns so ähnlich waren, weil wir beide jemanden suchten, der die Träume des anderen bestehen ließ, ohne sie in Frage zu stellen.
    Landsberg im Winter machte mich krank. Die unerträgliche Freundlichkeit dieses verschlafenen Kaffs. Die vielen kleinen Brücken und Mühlen und Bäche, all die widerlichen Zeichen bürgerlicher Wohlanständigkeit. Die anbiedernden Türschilder in der Salzgasse, die Passanten mit ihrem Privatmief belästigten: »Hier wohnen Olli und Gertie und Luzie.« Es brachte mich fast zum Kotzen.
    Manchmal, wenn ich es ohne Gesellschaft nicht mehr aushielt, besetzte ich eine fremde Wohnzimmercouch oder traf einen Freund. Aber meine Freunde wollten immer in Cafés sitzen und über ihr Leben reden oder, noch schlimmer, über mein Leben. Ich begann Tom zu vermissen. Er interessierte sich nicht für mein Leben. Das war immer sein größter Vorzug gewesen.
    Im Februar überraschte er mich, indem er mich wieder einmal in sein Observatorium einlud. Das war selten seit unserem Dorfdisco-Erlebnis.
    Ich saß wieder auf meinem Stammplatz, der höchsten Stufe der Holzleiter, und fror. Observatorien sind nicht beheizbar, jedenfalls funktionieren sie beheizt nicht mehr, und draußen war es ungemütlich. Um die null Grad mit gelegentlichem Eisregen. Tom bot mir an, heiße Getränke aus dem Haus zu holen.
    »Falls Tropfen fallen, mach das Dach sofort zu«, empfahl er und ließ mich allein. Der Raum um mich bestand nur aus Schatten, durch den Spalt in der Decke fiel fahles Grau und beließ die Gegenstände, den kleinen Tisch mit Karten, die Leiter und das Teleskop, in einem ungreifbaren Zwielicht.
    Ein paar Minuten saß ich da, an der Schwelle zwischen Dämmerung und Nacht, und sah, wie plastisch schwarze Wolken durch den Spalt über mir jagten, den Blick auf die Sterne verdeckten und wieder freigaben. Ich fragte mich, wann Tom zurückkommen würde. Zehn Minuten würde er brauchen, vielleicht auch etwas länger. Eine kalte, nervöse

Weitere Kostenlose Bücher