Die Kommissarin und der Tote im Fjord
Stenshagen. Nina …«
Er verstummte. Stig hatte die Verbindung abgebrochen.
Gunnarstranda betrachtete einige Sekunden lang sein Handy. Dann rief er noch einmal an. Nach drei Signalen wurde Stigs Handy gänzlich abgeschaltet.
Gunnarstranda stand einen Moment reglos da und dachte nach.
Svenaas lugte hinter einem Regal hervor. »Na, was sagt er?«
»Er wollte nicht mit mir sprechen.«
»Überrascht?«
Gunnarstranda antwortete nicht.
Svenaas wedelte mit dem Handy. »Das hier kann noch etwas dauern.«
Als Gunnarstranda wieder in seiner Abteilung war, blieb er am Fenster stehen und dachte an Nina Stenshagen. Eine obdachlose Frau, die mit 44 Jahren stirbt. Wenn es stimmte, dass sie als Zugführerin bei der T-Bahn gearbeitet hatte, dann kannte sie die Tunnel unter dem Osloer Zentrum in- und auswendig. Sie hatte gewusst, wo Bombenschutzräume oder Notausgänge waren. Er trat ans Fenster und sah hinaus. Es war früh am Morgen und immer noch dunkel. In den Straßen unten bei Grønland bildeten sich Ketten von Autoscheinwerfern, weiß und rot. Irgendwo da draußen saß Stig Eriksen und fror.Tja, dachte Gunnarstranda. Stig hatte wohl einfach keine Lust, mit der Polizei zu sprechen.
War er vielleicht derjenige gewesen, der Nina in den Tunnel verfolgt hatte? Aber wenn er es gewesen war, warum hatte er es getan?
Gunnarstranda drehte sich um, und vor ihm stand Emil Yttergjerde.
»Hast du Fartein Rise gesehen?«, fragte Gunnarstranda.
Emil schüttelte den Kopf. »Hab ihn zuletzt gestern Nachmittag gesehen, als er eine Morddrohung gegen eine Dame vom Parlament überprüfen wollte.«
Gunnarstranda ging auf den Korridor. Rindal stand in der Tür seines Büros und wedelte mit einem Papier. »Hast du mal einen Moment Zeit?«
2
Im Chefbüro schloss Rindal die Tür und reichte Gunnarstranda das Papier.
Es war eine Kopie. Das Original war auf einem linierten und gelochten, aus einem Block herausgerissenen Blatt geschrieben. Es war eine ziemlich holprige Mitteilung, adressiert an Aud Helen Vestgård, Parlamentsgebäude: Vestgård solle sich zusammenreißen, sie wisse doch, dass sie als Frau eine historische Aufgabe habe, nämlich gegen die Unterdrückung der Frauen durch die Männer zu kämpfen. Wenn sie weitermache wie bisher und sich den maskulinen Werten der Gesellschaft unterwerfe, dann würde es ihr schlecht ergehen.
Der Brief war mit Namen und Adresse unterschrieben.
»Die Parlamentsverwaltung hat den Brief an den Polizeilichen Geheimdienst in Nydalen geschickt«, sagte Rindal,»und der hat die Sache an uns weitergeleitet. Sie rechnen damit, dass der Brief von einer verwirrten Person verfasst wurde, und gehen deshalb davon aus, dass es sich nicht um eine Bedrohung der nationalen Sicherheit oder einen Fall für die Terrorschutztruppe handelt.«
Gunnarstranda zog die Augenbrauen hoch. »Terror?« Er las laut aus dem Brief vor:
»… könnte es Ihnen schlecht ergehen.« Er sah Rindal fragend an. »Welches Genie ist denn auf die Idee gekommen, diese Zeile könnte eine Terrordrohung sein?«
Rindal überhörte die Frage und sagte: »Der Geheimdienst will den Fall nicht übernehmen. Andererseits meint der Sicherheitsbeauftragte im Parlament, dass hier eine Abgeordnete bedroht wird, und will deshalb untersucht haben, was dahintersteckt. Ich bin derselben Meinung wie der Sicherheitsdienst. Die Dame, die den Brief geschrieben hat, ist wahrscheinlich durchgeknallt. Aber das Parlament wartet dringend auf eine Antwort. Kannst du die Sache bitte klären – und zwar sofort?«
Rindal setzte sich wieder und konzentrierte sich auf den Monitor seines PCs.
Gunnarstranda blieb stehen.
»Nimm die Tür mit, wenn du gehst«, sagte Rindal.
Gunnarstrand rührte sich nicht.
Rindal schwang seinen Stuhl herum und sah ihn an. »Ja?«
»Ich dachte, du hättest den Bergenser darum gebeten?«
»Er heißt Rise«, sagte Rindal kurz. »Wir wollen in diesem Haus gern mit unserem Namen angesprochen werden, Gunnarstranda. Das ist für alle am besten. Es würde dir auch nicht gefallen, der Glatzkopf genannt zu werden, oder?«
Gunnarstranda seufzte. »Könntest du mich bitte aufklären?«
»Worüber?« Rindal schob wütend das Kinn vor.
»Darüber, was Rise unternommen hat und warum ich füreinen anderen das Wasser tragen soll? Gefiel Rise der Auftrag nicht?«
Rindal sah ihn mit offenem Mund an. »Rise ist ein fähiger Polizist«, sagte er dann und fügte hinzu: »Ich weiß das.« Er hob eine Hand, als Gunnarstranda etwas sagen wollte. »Du
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