Die Komplizin - Roman
machten wir weiter. Ich spürte seinen weichen Bauch unter meinen Händen, den rauen Stoff seines Jeansbundes an meinen Knöcheln. Ein letzter Ruck, und er glitt hinein wie ein Taucher. Aus seiner Kleidung stiegen kleine Luftblasen empor, die Arme sanken nach unten, und schließlich tauchten auch seine Beine unter die dunkle Oberfläche. Dann lag das Boot plötzlich wieder ganz ruhig im Wasser. Seine schwere Last war verschwunden. Er war verschwunden. Nichts wies mehr darauf hin, dass er jemals da gewesen war. Ich beugte mich über den Rand des Boots und musste mich heftig übergeben. Keuchend würgte ich den gesamten Inhalt meines Magens hervor. Hinterher schöpfte ich eine Handvoll Wasser aus dem See und wusch mir damit das Gesicht.
Dann setzte ich mich wieder an mein Ruder, und wir fuhren zurück zum Ufer. Ohne ihn war es viel einfacher. Wir kletterten hinaus, zogen das Boot an Land und verwandelten es wieder in eine Schildkröte, indem wir es umdrehten, die Ruder darunter verstauten und das Ganze mit der schweren Plane abdeckten. Anschließend holte Sonia unsere Schuhe. Im schwachen Mondlicht zogen wir sie an, während hinter uns die Wellen sanft ans Ufer schlugen.
Dann legte mir Sonia eine Hand auf die Schulter.
»Lass uns nach Hause fahren.«
»Ja«, sagte ich, »nach Hause.«
»Wir müssen noch den Läufer loswerden. Ich habe auf der Herfahrt ein paar große Mülltonnen gesehen. Da können wir ihn hineinstopfen.« Mit diesen Worten schob sie mich in Richtung Auto.
»Was ist mit dem Wagen?«, fragte ich unvermittelt.
»Was soll damit sein?«
»Was machen wir damit?«
»Du hast recht. Daran habe ich nicht gedacht.«
»Am besten, wir stellen ihn einfach irgendwo in London ab und werfen die Schlüssel weg.«
»Wenn wir ihn in der Stadt stehen lassen, informiert bald irgendwer die Polizei, und die kommen, um ihn abzuschleppen. Das sieht man doch ständig.«
»Uns bleibt keine andere Wahl.«
Langsam gingen wir zurück zum Wagen. Der Halbmond stand inzwischen etwas höher und spiegelte sich im Wasser. Ich musste daran denken, wie er dort draußen auf dem Grund des Sees lag und von den Fischen angeknabbert wurde.
»Ich weiß, was wir machen«, verkündete Sonia, »wir fahren ihn nach Stansted.«
»An den Flughafen? Warum denn das?«
»Wir können ihn dort auf den Langzeitparkplatz stellen. Überall sonst wird ein herrenloser Wagen nach ein paar Tagen abgeschleppt, aber am Flughafen parken die Leute ihre Autos oft wochen-, manchmal sogar monatelang.«
»Meinst du wirklich?« Skeptisch fragte ich mich, ob das eine brillante oder eine verrückte Idee war.
»Etwas anderes fällt mir nicht ein. Dir vielleicht?«
»Mir fällt überhaupt nichts ein.«
Nachdem ich eingestiegen war und den Wagen angelassen hatte, schaute ich kurz zu Sonia hinüber, die in aufrechter Haltung ihren Gurt anlegte und sich die widerspenstigen Haarlocken hinter die Ohren strich.
»Möchtest du hören, was passiert ist?«, fragte ich sie.
»Möchtest du es mir erzählen?«
»Noch nicht.«
»Dann warte.«
»Sonia?«
»Ja?«
»Du darfst mit keinem Menschen darüber reden.«
»Ich weiß.«
»Keinem einzigen.«
Sie wusste, von wem ich sprach.
Davor
Ich hatte eigentlich nie Geheimnisse. Während meiner Schulzeit hatte ich Freunde, die in der eigenen Familie wie Spione lebten, ja ein regelrechtes Doppelleben führten. Unbemerkt von ihren Eltern, gingen sie allerlei sexuellen Aktivitäten nach, pflegten dubiose Freundschaften, rauchten Zigaretten, nahmen Drogen, schwänzten die Schule und übten sich in Jugendkriminalität. Einige waren sogar richtig kriminell. Das Ganze sah für mich immer nach echt schwerer Arbeit aus. Es galt so vieles im Gedächtnis zu behalten, so vieles zu verheimlichen. Ein falsches Wort zum falschen Zeitpunkt, eine verräterische Kleinigkeit, die man offen herumliegen ließ, eine Lüge, die nicht ganz passte, und schon flog man auf.
Mir leuchtete nie so ganz ein, warum sie das taten. Ich stieß meine Eltern zwar nicht gerade mit der Nase auf alles, was ich als Teenager so trieb, aber wenn sie mir eine Frage stellten, sagte ich ihnen die Wahrheit, wenn auch nicht unbedingt die ganze. Ich hatte kein geheimes Doppelleben, keine heimlichen Freunde, keine heimlichen Verehrer. Ich führte auch niemals ein geheimes Tagebuch. Genau genommen führte ich überhaupt keines. Ich trank weder heimlich, noch rauchte ich heimlich.
Ein einziges Geheimnis bewahrte ich aber doch. Bei genauerem Nachdenken war es
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