Die Korallentaucherin
»Ich hoffe, mein Kind hat glückliche Erinnerungen.«
Das arme kleine Ding hat keinen guten Start ins Leben, wenn seine Eltern sich trennen.
»Warum nicht? Diese Insel scheint besonders gut geeignet zu sein für mütterliche Fürsorge inmitten von Schönheit, Frieden, Natur, liebenden Freunden.« Er unterbrach sich leicht verlegen.
Jennifer lächelte ihn an. »Wie war deine Kindheit?«
»Nicht sehr ereignisreich. Schön. Gutsituierte Vorortfamilie an der Nordküste Sydneys. Viel Segeln. Du würdest meine Familie mögen. Man hört so viel über Kindheits-Altlasten. Aber ich habe mir später in meinem Leben selbst die dunklen Momente geschaffen. Darüber komme ich hinweg. Der Urlaub hier hatte heilsame Wirkung.«
»Aber jetzt müssen wir arbeiten.« Sie wollte nicht weiter in ihn dringen.
»Ja. Noch ein Grund, warum ich zurück aufs Festland will: Ich möchte ein bisschen Licht in das Netzwerk von Unternehmen bringen, aus denen sich Reef Resorts International zusammensetzt. Sie alle arbeiten unabhängig voneinander, abgesehen von zwei oder drei leitenden Angestellten im Londoner Vorstand.«
»Woher weißt du das? Hilft dir jemand? Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte«, sagte Jennifer.
»Ich besitze ein sehr wertvolles schwarzes Büchlein voller Kontakte. Den richtigen Menschen am richtigen Ort zu finden, das ist der Schlüssel. Oftmals wissen die Leute gar nicht, dass sie über Informationen verfügen. Ein freundliches Plauderstündchen bringt häufig Licht in dunkle Ecken.«
Beim Kaffee entwarfen sie das Format des Buchs und ließen den Schlussabsatz mit einem großen Fragezeichen hinter der Überschrift stehen –
Wege in die Zukunft
.
»Ich weiß, dass du für deine eigene Arbeit eine Menge lesen musst, aber wenn du das hier mal überfliegen würdest, findest du vielleicht auch das eine oder andere, was interessant oder brauchbar für dich ist. Und dir könnten Dinge auffallen, die ich übersehen habe«, sagte Tony.
Jennifer rollte sich im Bett zusammen und las, bis sie die Augen nicht mehr offen halten konnte. Sie schlief ein, friedlich wie seit Wochen nicht mehr. Vielleicht lag es daran, dass sie eine schmerzliche Entscheidung getroffen und nun das Gefühl hatte, endlich mehr Kontrolle über ihr Leben übernommen zu haben. Auch wenn sie allein war, wollte sie Isobels Rat nicht vergessen und diese Zeit nutzen, um mehr über sich selbst zu erfahren. Und sie war ja auch nicht völlig auf sich selbst gestellt. Ihr Freundeskreis auf der Insel gab ihr viel Kraft. Der Abend mit Tony war entspannt, interessant und schön gewesen. Vielleicht wusste er es nicht, aber er hatte ihr geholfen, in ihrem Leben eine Brücke zu überqueren.
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Kapitel achtzehn
Das dunkle Meer
B ranch Island kam Jennifer, früher als ein unbedeutender Punkt auf der Weltkarte, nun wie das Zentrum des Universums vor. Sie wachte früh auf, erfrischt und voller Energie. Dann ging sie zum Strand. Sie liebte diese Spaziergänge im Morgengrauen.
Sie beschloss, heute die umgekehrte Route einzuschlagen und an der Vorderseite der Ferienanlage und dem Strandstützpunkt der Forschungsstation vorbeizugehen. Vereinzelte Wolken störten den Sonnenaufgang, ein tropischer Schauer war möglich. Dennoch war die Luft warm und das Meer ruhig. Dort, wo die Ufermauer und die Strandpromenade angelegt worden waren, gab die Ebbe den steinigen Kanal frei, der zum tieferen Wasser führte. Jennifer hob den Blick zu dem hinteren Flügel der stillen Luxussuiten, vor denen die Bäume eine Silhouette bildeten. Sie wollte gerade zum verlassenen, von der nächtlichen Flut sauber gefegten Strand abbiegen, als eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Eingeklemmt zwischen Steinen tief unten in dem Kanal, kaum noch überspült von den Rinnsalen der auslaufenden Flut, kämpfte sich eine riesige Schildkröte mit ihren Schwimmflossen über die endlosen Korallenbänke in Richtung Wasser. Jennifer blickte sich um und sah, dass das alte Weibchen an den Strand gekommen war, um seine Eier an einer Stelle abzulegen, wo zu früheren Zeiten keinerlei Hindernisse auf dem Weg zu seiner Geburtsstätte gewesen waren. Woher kam sie so spät in der Jahreszeit? Die deutlichen Spuren ihres Aufstiegs auf die Düne hatten sich in den jungfräulichen Sand geprägt. Wenn sie nicht zurück ins Meer gelangte, würde sie in der Sonne sterben.
Jennifer zögere nicht lange, wechselte die Richtung und stolperte, dankbar für ihre leichten Gummischuhe, über die scharfen, von
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