Die Korallentaucherin
Korallen überkrusteten Steine. Die Schildkröte ruhte sich gerade aus, atmete schwer, die alten tränenden Augen blickten traurig und glasig. Hartnäckig machte sie sich dann wieder ans Werk, ruckte vor, bewältigte vier Zentimeter des Wegs die Steine hinauf, um dann wieder zurückzurutschen, gezogen von der Schwerkraft und dem Gewicht ihres massiven, mit Rankenfußkrebsen besetzten Panzers.
»Du armes altes Mütterchen.« Angerührt von der Ausdauer einer Mutter, die einem prähistorischen Instinkt folgt, hockte Jennifer sich nieder und schob und drückte, um ihr zu helfen. Sosehr sie auch keuchte und sich abmühte, es schien nicht viel zu nützen. Sie stand auf und blickte sich um. Weit und breit war niemand zu sehen, auch kein Werkzeug, das sie zu Hilfe nehmen konnte. Wen konnte sie rufen? Das Gesetz der Ferienanlage kam ihr in den Sinn: Hier herrscht die Natur. Wenn das hier der Schildkröte vom Schicksal bestimmt war, dann sollte es so sein.
»Nein, ich kann dich nicht so zurücklassen.« Jennifer verspürte einen mütterlichen, weiblichen Bezug zu dem Tier. Sie legte sich seitlich neben die Schildkröte, schob die Schulter unter den hinteren Teil ihres Panzers, holte tief Luft und schob. Ein Scharren und Knirschen war zu hören, die Schildkröte wurde über die Steine hinweg auf eine glattere, ebene Fläche gehoben. Hier stellten die Steine nicht so große Hindernisse dar und waren zu überwinden. Jennifer schob und zog, die Schildkröte verlagerte ihr Gewicht, und unter gemeinsamer Anstrengung bewegten sie sich allmählich unter Holpern und Scharren über die Korallenbank.
Jennifer erhob sich und blickte zu der Stelle in der Ferne hinüber, wo sich die Wellen am Strand brachen. Doch links von ihr befand sich ein tiefer Priel.
»Du dummes Weib! Du gehst einfach geradeaus, wie du es schon immer getan hast. Sieh mal da drüben, geh ein bisschen zur Seite, dann schlüpfen wir in den Priel und schwimmen.«
Die Schildkröte wehrte sich hartnäckig. Jede Zelle in ihrem Körper war auf den Weg programmiert, den sie schon seit Generationen nahm. Doch Jennifer bewies Ausdauer, und die alte Schildkröte ermüdete. Sie rutschte und kippte über einen Stein. Zentimeter für Zentimeter arbeiteten sie sich voran; die Schildkröte war beunruhigt. Sie wehrte sich, aber schließlich konnte Jennifer die alte Schildkröte in den Priel kippen. Als sie Wasser unter den Schwimmflossen spürte, bewegte sie sich mit frischer Energie. Jennifer fürchtete schon, sie würde auf ihren anfänglichen Weg zurückkehren, und deshalb half sie ihr weiter. Beide schleppten und scharrten sich durch den engen Kanal, dessen Wasser Jennifer bis zu den Knien reichte.
Dann waren da eine Lücke und eine Brandung, und der Priel fiel plötzlich steil ab. Jennifer hielt sich am Panzer fest, als die Schildkröte zu schwimmen begann, den Kopf Richtung Meer, den Blick auf den fernen Horizont gerichtet.
Es geschah so schnell. Die Schildkröte schwamm entschlossen los, getragen von der Strömung. Jennifer, die sich an ihr festhielt, wurde in den tiefen, schmalen Priel mitgerissen, in Richtung auf die weiße Gischt am Riff. Sekunden später hatten sie die schäumenden Wellen hinter sich gelassen und befanden sich plötzlich in klarem, ruhigem Wasser. Die Schildkröte tauchte unter, schwamm kräftig und flink davon, und Jennifer rang nach Luft, schloss den Mund und ließ los, sobald das Tier untertauchte. Die unbeholfene Schildkröte war jetzt schwerelos und bewegte sich anmutig im blauen Wasser.
Die Verbindung zwischen den beiden war unterbrochen. Die Schildkröte neigte sich auf die Seite, tauchte tiefer, nur noch ein Aufblitzen der cremeweißen Unterseite und ein leichtes Wenden des Kopfes. Erkannte Jennifer in den glasigen Knopfaugen einen dankbaren Blick? Jennifer trieb im Wasser, hielt immer noch den Atem an, bemerkte erst jetzt die wogenden Wasserpflanzen, die kleinen Wellen, die über die Korallenbank spülten. Sie schoss an die Oberfläche und schnappte nach Luft.
Eine Minute später hatte sie die Korallenbank erreicht, hielt sich an den weichen Korallen fest und zog sich zurück in den Priel, wo sie sich gegen die Strömung vorwärtskämpfte, bis sie wieder stehen konnte. Mit weichen Knien watete sie auf sandigem Grund weiter, bis sie über den steinigen, seichten Teil an den Strand krabbeln konnte.
Sie warf sich in den Sand. Arme und Beine waren zerkratzt und blutig, doch sie verspürte ein überwältigendes Triumphgefühl. Irgendetwas
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