Die Kornmuhme (German Edition)
fast an, als wenn Leben
in ihm wäre, und er schimmerte nicht nur Gold, sondern manchmal auch in Farben,
die Sonnwin zuvor noch nie gesehen hatte. Er war überwältigt von alle dem. Seine
Stimmung schwankte zwischen Angst, Stolz und blanker Panik.
Wieder einmal öffnete er die
Schatulle, die neben der glühenden Kugel und der Fackel auf dem Tisch lag, und
berührte Fenris in Gedanken versunken.
Dann hockte er sich wieder auf den
Boden über die Karte und ging mit dem Finger den Weg nach, den sie beide würden
gehen müssen. Zunächst mussten sie das Schmelztal, das Sonnwin hinuntergekommen
war, wieder erklimmen. Sie kamen sogar fast wieder an Sonnwins Ausgangspunkt
vorbei, mussten dann aber gen Westen gehen. Er markierte die Weltenesche
Ygdrassil, die im Syselwald lag, dem Wald der rasenden Zeit. Es hieß, dass man
sich in diesem Wald in Acht nehmen müsse. Er söge die Zeit aus einem heraus,
und ehe man es sich versah, war man ein Greis, wenn man wieder heraustrat.
Doch nicht einmal der Syselwald,
machte Sonnwin so viel Angst wie der Umstand, dass ihre Route geradewegs durch
zwei Dörfer der Menschen führte, nämlich durch Birk und Katzbach. Er suchte
nach Alternativrouten. Doch jede dieser Routen verlängerte ihren Weg jeweils
fast um einen ganzen Tag. Er schnaubte und beschloss, das Grübeln darüber auf
den nächsten Tag zu verschieben. Er hatte auf seiner Wanderung das
Schmelzbachtal hinunter noch genügend Zeit, sich darüber den Kopf zu
zermartern.
Er stand auf und schlenderte
wieder an seinem Bücherregal auf und ab. Er suchte nach einem ganz bestimmten
Buch. Gulda musste es beim Abstauben wieder einmal verlegt haben. Er schimpfte
leise über den Irrsinn seiner Frau, jedes Ding in dieser Wohnung zwanghaft vom
Staub zu befreien, der doch in diesen Höhlen sowieso allgegenwärtig war. Es
war, als wäre es etwas anderes, was sie damit wegwischen wollte, so als würde
sie sich an jedem Gegenstand, ja an nahezu allem in ihrem Leben irgendeinen
Anstoß finden.
Das Buch trug den klangvollen
Namen: „Wesen der Oberwelt“ und endlich fand er es auf einem Stapel alter,
ausrangierter Bücher.
>> Pfft <<, machte er
und ärgerte sich darüber, wie wenig Gulda sein Wissen über die Oberwelt zu
schätzen wusste. Er nahm das in Leder eingeschlagene Buch in die Hände und
strich versonnen über den Einband. Er hatte es schon unzählige Male
durchgeblättert. So oft, dass es schon fast auseinander fiel, wenn man es
öffnete. Deshalb war es auch mit einem dicken Lederriemen umbunden. Er löste
ihn und schlug es auf. Es war über und über mit Notizen versehen. Er lächelte,
als er seine Handschrift sah. Dann ließ er sich in den breiten Lehnstuhl neben
dem Kamin sinken, legte es auf seinen Schoß und stocherte mit einem Schürhaken
ein wenig in der Glut herum.
Er beugte sich herab und legte
noch ein Scheit auf. Direkt blätterte er zu einer Seite vor, die er sich schon
besonders oft angeschaut hatte. Es war die Seite über die Vögel. Sie
faszinierten ihn am meisten, da sie fliegen konnten. Und fliegen, da war er
sich sicher, das musste etwas unfassbar Schönes sein.
Nicht alles jedoch, was in diesem
Buch stand, entsprach der Wahrheit. Vieles hatte er schon widerlegt, es dann
durchgestrichen und Korrekturen daneben geschrieben oder tatsächlich auch schon
Abbildungen mit Farbe und Pinsel so übermalt, dass sie der Realität
entsprachen. Er blätterte eifrig weiter, bis er am Buchstaben M angelangt war.
Da war sie, die Muhme. Die alte Kornmutter. Mit Schaudern betrachtete er das
Bild. Eine schwarze Gestalt sah man darauf durch ein Kornfeld schleichen. Die
Silhouette einer alten Frau, die ihre dürren Arme wie eine Blinde ausgebreitet
hielt und damit über die Spitzen der Ähren unter sich strich. So als wären ihre
Finger und auch die Halme Fühler, die sich darüber austauschten, was sich in
jedem noch so kleinen Winkel dieses Feldes tat.
Plötzlich verschwamm das Bild vor
seinen Augen, und eine Vision kam blitzartig über ihn. Er sah die Kornmuhme,
wie sie mit großen Schritten unfassbar schnell auf ihn zugeflogen kam und ihn
in einer grauenvollen, tödlich heißen Umarmung umfing.
27
Ein helles Klackern ließ Irrgrim
erwachen. Er nahm einen tiefen Atemzug und hielt seine Augen geschlossen. Es
war ihm, als wenn Stein auf Stein hüpfte. Er lauschte. Noch einmal hörte er
dieses Klackern, und noch etwas hörte er…
Etwas wie Stimmen, allerdings in
einer Sprache, die er nicht kannte, von Zungen
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