Die Krieger 5 - Das Labyrinth der Götter
Dämon geworden, wenn Saat das Dara nicht betreten hätte.«
»Mir blieb keine Wahl«, antwortete Nol ruhig. »Das gehört zu den Aufgaben, die mir die Sterblichen auferlegt haben: die Harmonie zwischen den Menschen und meinesgleichen herbeizuführen.«
Als Amanon ihn verständnislos ansah, fügte er hinzu:
»Ich war das erste Kind, das in den Gärten geboren wurde. Man nannte mich ›den Seltsamen‹ und fürchtete mich ebenso sehr, wie man mich bewunderte. Die Menschen glaubten, die Wahrheit aus meinem Munde zu erfahren, erhoben mich zum Vorbild und beteten darum, dass ich das Gleichgewicht der Welt nicht stören würde. So wurde ich Nol der Lehrende. Seither lautet meine wichtigste Aufgabe, den Sterblichen bei der Verwirklichung ihres einzig wahren Wunsches zu helfen.«
»Und der wäre? Die Harmonie, das Zeitalter von Ys? Aber was bedeutet das genau?«
Der Hüter dachte lange nach, bevor er antwortete. Niss argwöhnte sogar, er könnte sich eine Lüge ausdenken. Doch das widersprach der Natur des Lehrenden.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Jene Zeit wird das Ergebnis Eures Willens, Eurer Bemühungen, Eures Strebens nach Freiheit sein – wahrscheinlich von alledem etwas. Als sie aus dem Karu zurückkehrte, wollte Eurydis den Sterblichen drei Tugenden mit auf den Weg geben: Wissen, Toleranz, Frieden. Vielleicht weiß sie mehr über diese Zukunft.«
»Habt Ihr sie denn niemals danach gefragt?«, wunderte sich Amanon.
Die anderen hatten das Gespräch aufmerksam verfolgt, und Amanons letzte Frage veranlasste Nolan, Lana und Corenn sogar, auf die beiden zuzugehen, um ja nichts zu verpassen. Doch noch bevor sie den Hügel, auf dem die Pforte stand, verlassen konnten, hob der Hüter warnend die Hand.
»Wir dürfen den Durchgang nicht so lange offen lassen«, mahnte er. »Der Wächter der Pforte könnte sich dadurch genötigt fühlen, aus seinem Winterschlaf zu erwachen. Und ich kann Euch leider nicht begleiten, um ihn zu besänftigen. Sombre würde sich augenblicklich auf mich stürzen.«
Widerwillig versammelten sich die Erben wieder vor der Pforte. Sie hätten zu gern Nols Antwort gehört, auch wenn er in den wenigen Dezillen, die ihnen noch blieben, nicht viel Erhellendes hätte sagen können und das zukünftige Antlitz der Welt gegenwärtig ihre geringste Sorge war. Sollte das Zeitalter der Harmonie eines Tages eintreten, so würden die Menschen glücklich sein, so war es ihnen seit jeher verheißen.
Und das war nur möglich, wenn Sombre besiegt wurde.
Dieser Gedanke ging Niss durch den Kopf, als sie durch die magische Pforte schritt. Sie winkte dem Hüter noch ein letztes Mal zu, dann löste Nol den Zauber, der den Durchgang geöffnet hatte. Unvermittelt kehrte tiefe Stille in den Gärten ein.
Einen Augenblick lang genoss Nol das Gefühl, wieder allein zu sein, bis seine Sorgen ihn einholten. Wenn diese Sterblichen scheiterten, würden keine weiteren Menschen mehr in sein Reich kommen. Und selbst wenn sie Erfolg hatten …
In beiden Fällen war die Zukunft ungewiss. Eurydis hatte ihm nicht erzählt, wie das Zeitalter von Ys aussehen würde. Sie hatte nur gesagt, dass alles, was einmal begonnen habe, irgendwann enden müsse.
Nol der Seltsame war zwar ein mächtiger Gott, aber in die Zukunft sehen konnte er nicht, und so schob er seine Furcht beiseite und ließ sich im weichen Gras des Dara nieder. Dann wartete er, wie er es seit jeher zu tun pflegte.
Nach einer Weile – wie viel Zeit genau vergangen war, vermochte er nicht zu sagen – kamen die ersten Kinder. Natürlich die kleinsten. Sie tanzten fröhlich um ihn herum, hopsten lachend auf und ab oder wollten auf seinen Schoß klettern. Nol wartete weiter, bis sich einige der älteren Kinder zu ihnen gesellten. Er spürte ihr Misstrauen deutlich. Einige der Sterblichen waren lange in den Gärten gewesen, und die Götterkinder spähten ängstlich zu der Pforte hinüber, als könnten die Eindringlinge jeden Moment wieder auftauchen. Also geduldete sich der Hüter noch etwas. Erst als die Kinderschar weiter angewachsen war, begann er zu sprechen.
Die Großen, die fast vollendeten Götter, würden erst viel später kommen, das wusste er. Sehr viel später. Das war nicht schlimm. Das Wichtigste war, wieder Ruhe einkehren zu lassen.
So fuhr der Lehrende fort, den Kindern die seltsamen Gesetze zu erklären, die in ihrem Reich und im Reich der Menschen herrschten. Wie er es immer tat, seit er als ihr ältester Bruder geboren worden war.
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