Die Kriegerin der Kelten
kam. Dann erblickte Graine auch noch Herne, den Vater und Bruder, den Liebhaber und Sohn: den gehörnten Gott, der den Hirsch symbolisierte und den Wolf, den Hasen und den Hund, die Taube und den Habicht, der auf ewig Teil war des Zyklus von Jäger und Gejagtem.
Diese drei Götter waren Graine bereits wohlbekannt, und sie hatte mit ihrem Erscheinen gerechnet. Hinter ihnen, neben ihnen strömten nun auch jene anderen Gottheiten heran, mit denen Graine noch nicht vertraut war und die sie darum auch nicht genau zu benennen wusste: Lugh vom Sonnenspeer war da, und vielleicht auch Camul, der einst der Kriegsgott der Trinovanter gewesen war, die ihm zu Ehren auch Camulodunum seinen Namen gegeben hatten. Dann glaubte Graine, auch noch Belin zu sehen, den Gott der Sonne, nur unter einem anderen Namen, in einem anderen Volk, und Macha, die Stutenmutter, die den Dumnonii mit ihrer Milch das Leben schenkte und ihnen ihre Felle gab und mit den alljährlichen Geburten auch ihre Fohlen.
Hinter ihnen allen und um sie herum eilten die Götter der Ahnen, ältere, wildere Götter, deren Namen Graine noch nie gehört hatte, außer vielleicht in dem Rauch im Großen Versammlungshaus, während die Symbolfiguren dieser Gottheiten über die Dachbalken zu hasten schienen. Auch die Träumerin der Ahnen war gekommen, und Ardacos’ Göttin, die Bärin, und Hirsche mit Geweihen, die so hoch in den Himmel hinaufzureichen schienen, dass sie sogar die Sterne noch umschlossen, und auch Hunde waren dort, die wild dahinpreschten, während über ihre Rücken Schlangen krochen, und ein Wesen, das wie eine Verschmelzung von Mann und Frau erschien, das sowohl das Licht der Sterne als auch das Licht des Todes in sich trug und das eins war mit der über die Landschaft gleitenden Morgendämmerung, die wiederum mit dem Horizont verschmolz, sodass dieser langsam in den Himmel hinaufzusteigen schien. Und dieses, das letzte Wesen im Reigen der Götter, war älter als alle anderen Gottheiten zusammengenommen.
Unter normalen Umständen hätte Graine nun Angst bekommen sollen. Und sie hatte auch Angst, doch der Gesang hielt sie fest umfangen, ließ sie nicht los, und in Bellos’ Gesicht zeichnete sich ein solch wundersames Entzücken ab, dass es schwer war, auch nur eine Spur von Furcht in seinem Inneren zu entdecken. Und Hawk war ja schließlich auch noch da, und auch er konnte sehen, was Graine sah. Leicht strich er mit der Hand an ihrem Handgelenk entlang, sodass sie spürte, wie das Leben durch ihn hindurchbrauste, und sie ganz schwach sogar das Lied der Klinge ihres Großvaters hören konnte, deren Stimme allerdings noch beängstigender schien als der Rest all ihrer Wahrnehmungen, eine Stimme, die Graine vorwärtspeitschte, die sie regelrecht berauschte, sodass sie schließlich nur noch rannte, bis sämtliche Furcht von ihr abgefallen war.
Und plötzlich hielten sie inne. Alles hielt inne: der Tanz, der Gesang, die Trommeln, die Flöten und sogar der Nebel, der neben der Prozession hergetrieben war. Die Götter waren noch immer da, aber weniger greifbar als vor wenigen Atemzügen, und nur mit einem flüchtigen Seitenblick aus den Augenwinkeln konnte Graine sie noch erkennen, und selbst dann bloß vage.
Sie standen am Rande eines Moores, das über und über mit Torfmoos bewachsen schien. Unschuldig grün lag es zu ihren Füßen, übersät mit Sumpfdotterblumen, deren Köpfchen so dick waren wie die Samenkronen des Löwenzahns. Die Luft war gewürzt von dem scharfen Minzgeruch der Myrte, und die Landschaft, die sich vor ihnen ausbreitete, war so eben und ohne jede Möglichkeit, sich zu verstecken, dass sie für sich genommen bereits eine tödliche Bedrohung darzustellen schien.
Atemlos keuchte Bellos: »Hier werden sie das Ritual vollziehen. Er wird im Angesicht der Erde und im Angesicht des Wassers sterben. Graine, kannst du hier irgendwo einen Stein entdecken? Er sollte ungefähr zweimal so groß sein wie deine Faust. Ganz in der Nähe müsste solch ein Stein liegen. In jedem Fall wäre es gut, wenn du ihn finden würdest und nicht irgendein anderer.«
Graine fand den Stein. Es war ein glattes, eiförmiges Stück Fels, durch dessen Mitte eine Ader aus milchig weißem Kristall verlief. Bellos nahm ihn in die Hände, hob ihn an sein eines Ohr und nickte dann: »Perfekt. Bewahr ihn auf für später. Du wirst es wissen, wenn der richtige Augenblick gekommen ist, um ihn zu überreichen. Jetzt sollten wir erst einmal ein wenig näher an das Geschehen
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