Die Kriegerin der Kelten
äußerster Vorsicht die mit glitschigen Grasbüscheln bewachsene Böschung hinaufstapfte, hielt abrupt inne, als es den Namen des Flusses hörte. Sein Reiter, einst der Präfekt der Ersten Batavischen Kavallerie, wandte sein Gesicht dem Kurier zu, der ihn soeben mit seinem alten Titel angesprochen hatte. Auf Civilis’ Gesicht spiegelte sich ein wahres Chaos an Erinnerungen wider, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Es gibt nicht mehr viele, die sich noch immer an diese Schlacht erinnern wollen. Hast du damals auch mitgekämpft, bei den ersten Gefechten gegen die wilden Stämme?«
Civilis’ Stimme bebte. Nur ganz kurz ruhte sein Blick auf Valerius und schweifte dann zögerlich weiter zum Legaten. Nichts deutete darauf hin, dass Civilis sich noch an Valerius erinnerte. Nachdem er im Stillen ein rasches Dankesgebet an die Götter des segensreichen Vergessens geschickt hatte, antwortete Valerius: »Ich habe den Kampf natürlich nicht so unmittelbar miterlebt wie Ihr. Ich habe in der Quinta Gallorum gekämpft, aber nicht alle von uns waren an vorderster Front platziert.«
Und das war keineswegs gelogen. Reglos verharrte Valerius auf seinem Platz und wartete. Der Civilis von früher hätte sich daran erinnert, dass ein gewisser Angehöriger der Fünften Gallischen Kavallerie nicht nur in vorderster Reihe gekämpft hatte, sondern sogar gemeinsam mit Civilis’ Batavern durch den Fluss geschwommen und mitten in das tobende Herz der Schlacht eingedrungen war.
Ein Herzschlag verstrich. Eine Sekunde. Unten, am Fuße des Hügels, hatte Longinus derweil den Eisenhändler eingeholt und dem Mann befohlen, sein Gefährt wieder zu wenden. Der Legat hatte voller Ungeduld einen Schritt zur Seite gemacht, stand aber immer noch nahe genug neben Valerius, dass dieser ihm das Schwert entwenden könnte. Und zwei Schritte von Valerius entfernt saß Civilis auf seinem Pferd. Er war weder bewaffnet noch durch eine Rüstung geschützt. Man hätte die ihm noch verbleibende Lebensspanne in Atemzügen messen können.
»Die Quinta Gallorum? Das war doch Corvus’ Flügel. Ich habe früher einmal unter ihm gedient, ehe man mir meine eigene Kommandovollmacht übertrug.« Der alte Mann hob leicht den Kopf, ganz ähnlich einem alten Hund, der den Geräuschen einer in weiter Ferne durch den Wald reitenden Jagdgesellschaft lauscht. Dann runzelte er die Stirn, und die Furchen in seinem Gesicht vertieften sich noch. »Dann müsste ich dich in jedem Fall kennen. Von denen, die in der Schlacht am Großen Fluss gekämpft haben, sind nur noch wenige am Leben, sodass wir einander nicht vergessen können.« Wässrige Augen musterten Valerius’ Gesicht, doch einen kurzen Augenblick später ließ Civilis seinen Blick auch schon wieder fortschweifen und betrachtete stattdessen und offensichtlich wesentlich interessierter das Pferd des Kuriers. »Wie lautet dein Name, mein Junge?«
»Tiberius. Ich wurde nach jenem Mann benannt, der zum Zeitpunkt meiner Geburt als Kaiser herrschte.« Es war eine raffinierte, aber auch äußerst gemeine Täuschung, die Valerius nur unter stillem Hass auf sich selbst über die Lippen brachte. Noch nie hatten die Götter die Erfinder von Lügen mit ihrem Wohlwollen gesegnet.
»Ah, ja...« Der Kehlkopf des alten Mannes hüpfte unter der Haut seines Halses auf und ab. »Jetzt erinnere ich mich wieder. Du hattest an den Ufern des Rheins unter Rufus gedient. Ein guter Mann. Bis die Eingeborenen ihm die Kehle durchschnitten. Und ihm ihre Hexenmale in die Brust ritzten. Und dann haben sie ihm mit dem Messer auch noch seine...«
Civilis’ Bewusstsein weilte nicht mehr in der Gegenwart, wollte nicht mehr in der Gegenwart verharren, sondern trieb in die Welt der Erinnerungen. Über die Köpfe der vor ihm stehenden Männer hinweg schweifte sein Blick zu einem fernen Horizont, den nur er allein sehen konnte. Die mit der Zeit regelrecht wächsern gewordenen Konturen seines Gesichts wurden wieder etwas weicher, und in seinen Mundwinkeln sammelten sich kleine Speichelbläschen. Es schien beinahe so, als wolle er jetzt und vor sämtlichen der ihn umstehenden Männern in Tränen ausbrechen.
Der Legat trat vor und packte das Zaumzeug des Pferdes, ehe der alte Mann die Zügel gänzlich fallen ließ und das Tier seinem eigenen Willen folgte.
»Alter Freund, uns steht ein Krieg bevor«, sprach der Legat. »Die Legion muss gen Süden nach Camulodunum marschieren, um der Fäule der Revolte in unserem Kaiserreich Einhalt zu gebieten.
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