Die Kugel und das Opium
waren über zweihundert Gefangene eingepfercht. Hier habe ich Konterrevolutionäre aus den verschiedenen Zeiten seit Gründung der Volksrepublik getroffen – religiöse Sektierer, Räuber, Berufe aus dem Bereich des Aberglaubens, regionale Kaiser, Untergrundagenten und so weiter und so fort, Menschen aller Couleur, die mir später das recht reichhaltige Rohmaterial geliefert haben für meine Bücher
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
und
Für ein Lied und hundert Lieder [29]
.
Aus historischen Gründen gab es zwischen den Gefangenen vom 4 . Juni und den anderen Gefangenen oft Misshelligkeiten, in dem Zeitraum allerdings, in dem ich da war, war die Gesamtlage relativ entspannt. Die Gefängnisleitung reagierte auf das, was Deng Xiaoping auf seiner Reise in den Süden gesagt hatte, dass »Armut nichts mit Sozialismus zu tun« hat, und verdiente mit den Gefangenen Geld. Li Bifeng und ich wurden Partner beim Gemeinschaftsessen, haben Tag für Tag den kostspieligen »geschmorten Rettich mit fettem Fleisch« genossen und uns dicke Backen gefressen. Ein Gruppenfoto von politischen Gefangenen, wie ich es inszeniert hatte, war später Mangelware, und es ist in einigen ausländischen Zeitschriften erschienen: sechs Leute in zwei Reihen, allesamt in Gefängnisklamotten, die Hände auf dem Rücken, ernste Gesichter, wie Lin Biao als Schulleiter im antijapanischen Widerstand. Ich hatte nicht erwartet, dass ausgerechnet solch ein Foto im Gefängnis ein Erdbeben auslösen würde. Anfang Sommer 1994 , ein paar Monate nach meiner Entlassung, erzählte mir Li Bifeng: »Die Gefängnisleitung ist auf einmal über uns hergefallen, hat die Leute vom 4 . Juni kollektiv kontrolliert, dann haben sie alles, angefangen bei dem, was wir am Leib trugen, bis zu unseren Betten so genau untersucht, als wären sie auf der Suche nach Tellerminen, unsere sämtlichen Fotos, Briefe, Manuskripte wurden beschlagnahmt. Anschließend wurde das Fotografieren verboten. Wir wurden auseinandergerissen und auf verschiedene Teams verteilt, wo wir der strengen Überwachung der Kriminellen unterstanden, wir konnten keinen freien Schritt, keine freie Bewegung mehr machen.«
Ich bedauerte das sehr, aber Li Bifeng schüttelte den Kopf: »Kein Mensch hat dir je die Schuld gegeben. Denn dass du uns Gesichter gegeben hast, das war auch ein Weckruf nach draußen, das war allemal, so geräuschlos und geruchlos es war, wichtiger als der Preis, den wir dafür bezahlt haben.«
Dennoch ist Li Bifeng am 4 . Juli 1994 , dem amerikanischen Nationalfeiertag, als normaler politischer Gefangener nach Abbüßung seiner Strafe ebenso geräuschlos entlassen worden. Wie Zehntausende andere politische Gefangene auch wurde er von einem Polizeiauto eigens nach Hause gebracht und dem dortigen Revier übergeben, wo er, wie es im Gesetz heißt, für »die Zeit der Aberkennung seiner politischen Rechte unter Aufsicht gestellt« wurde – darüber sind bis heute weder im In- noch im Ausland irgendwelche Berichte zu lesen.
LI BIFENG:
Als ich draußen war, wurde ich ständig von der Polizei belästigt, mein Leben war ein einziges Chaos. Meine Familie gab mir die Schuld. Um zu beweisen, dass jeglicher Widerstand in mir gebrochen war, habe ich geheiratet, bin in das Wohnheim der Einheit meiner Frau gezogen, ein winziges Zimmer, in dem man sich kaum um die eigene Achse drehen konnte und wo man auf dem Flur kochen musste. Vielleicht hat ihnen mein Gesicht nicht gepasst, vielleicht habe ich den unsteten Blick; auch wenn ich zu allem wortlos genickt habe, was die Polizei wollte, so hatten sie doch weiter schwere Zweifel. Ich bin immer wieder zum Revier zitiert worden und habe allmählich eine Antihaltung entwickelt, in welcher Zeit lebten wir denn, waren die immer noch mitten im Klassenkampf und haben die Vier Üblen Elemente beobachtet? Daraufhin bin ich in der Weltgeschichte herumgefahren.
LIAO YIWU:
Da warst du auch bei mir und hast mir nach dem
Buch der Wandlungen
die Zukunft vorhergesagt.
LI BIFENG:
Außer für das Schreiben hast du dich für die Wahrsagerei interessiert.
LIAO YIWU:
Die Schafgarben, das ist, um innerlich Bescheid zu wissen und nicht wie du als kopflose Fliege überall anzuschlagen.
LI BIFENG:
Auch wenn meine Beine wild sind, so schlage ich doch nicht blind irgendwo gegen. Im Sommer 1995 hat mich die Nachricht, dass eine Persönlichkeit der Demokratiebewegung namens Yu, der Vorname tut nichts zur Sache, von Shenzhen geflohen ist, sehr aufgeregt. Seinerzeit
Weitere Kostenlose Bücher