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Die Kultur der Reparatur (German Edition)

Die Kultur der Reparatur (German Edition)

Titel: Die Kultur der Reparatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang M. Heckl
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die Physik z. B. in seinem Geschwindigkeitsadditionstheorem nur auf den Fall großer Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit und geht für kleine, für uns normale Geschwindigkeiten in das normale Addieren zweier Geschwindigkeiten über: etwa, wenn in einem fahrenden Zug eine Kugel gerollt wird und wir die beiden Geschwindigkeiten von Zug und Kugel einfach zu einer Gesamtgeschwindigkeit aufaddieren, so wie sie ein Beobachter von außerhalb des Zuges wahrnehmen wird. Dass dies aber nicht mehr so einfach geht, wenn ich in einem fahrenden Zug eine Taschenlampe einschalte, ich also nicht mehr Zug- und Lichtstrahlgeschwindigkeit aufaddieren darf, das lehrte uns Einstein. Denn täte ich das, würde der Beobachter von außen Überlichtgeschwindigkeit sehen, die es in der Natur laut Einstein eben nicht geben kann. Dieses Wissen ist mehr als hundert Jahre alt, aber haben wir es verstanden, kennen wir es überhaupt? Wir sollten uns in Zukunft wieder daran gewöhnen, „alte“ Erkenntnisse und „altes“ Wissen nichthochnäsig zu ignorieren, sondern zu lernen und zu benutzen – und im weitesten Sinne auch dieses Wissen zu reparieren. Denn das lateinische Wort reparare bedeutet nicht nur „wiederherstellen“, sondern auch „erneuern“.
    Trotz der unglaublichen Bedeutung von Entdeckungen, Erfindungen und technischen Leistungen für die Menschheit ist für mich erstaunlich, wie wenig Menschen sich dafür interessieren, ja begeistern. Zugegeben, sie sind nicht immer einfach zu verstehen – die Natur ist komplex –, dabei ist es eine so lohnenswerte intellektuelle Herausforderung, sich mit ihren Gesetzen zu beschäftigen. Und, wie Albert Einstein es einmal ausgedrückt hat: „ Subtle is the Lord, but malicious He is not“ – Raffiniert ist der Herrgott, aber boshaft ist er nicht. Man könnte auch sagen: Der Mensch hat gewissermaßen das prinzipielle Rüstzeug für Naturerkenntnis.
    Ich lerne dadurch zu verstehen, wie technische Entwicklungen die Menschheit verändert haben. Gesellschaftliche Paradigmenwechsel sind oft mit der Erfindung neuer Technik einhergegangen. Ich kann lernen, Chancen und Risiken, die eine jede neue Technik beinhaltet, einzuschätzen. Ohne die Erfindung des Steinwerkzeugs hätten unsere Vorfahren kein Leder oder Holz bearbeiten, ohne den Pflug keine Ackerwirtschaft betreiben können, sie wären nicht sesshaft geworden, es hätten sich keine Dorfgemeinschaften und keine gesellschaftlichen Systeme entwickelt. Ohne die Erfindung der Dampfmaschine hätte es die industrielle Revolution nicht gegeben, denn auf einmal war das Vorhandensein von automatischer Arbeitskraft nicht mehr an einen bestimmten Ort, wie bei der Windmühle oder bei der Wasserkraft, gebunden, sondern konnte an jedem Produktionsstandort eingesetzt werden. Die Dampfmaschine ermöglichte Mobilität, die Eisenbahn, aber auch effektiveres Dreschen von Getreide auf den Bauernhöfen. Ohne die Erfindung des Transistors hätte es keine Mikroelektronik gegeben, ohne die Erfindung des Rastertunnelmikroskops durch meinen Postdoc-Vater Gerd Binnig keine praktische Nanotechnologie usw. Spitzenleistungen menschlichen Geistes, die das Leben verändert haben und gewaltige Innovationsschübe nach sich zogen, sind nur mit den Schlüsseltechniken, von denen ich im Zusammenhang mit der einfachen Reparatur gesprochen habe, hervorzubringen. Wenn ich wie bei einem Reparaturvorgang gelernt habe, evidenzbasiert und analytisch vorzugehen, habe ich mir wesentliche Fähigkeiten angeeignet, die ich auch in meinem Berufsleben genauso gebrauchen kann. Und ich kann, gerade in verfahrenen Situationen, z. B. wenn schwierige Entscheidungen anstehen, kreative Alternativen entwickeln, den Daniel Düsentrieb in mir zum Leben erwecken.

Glück: Emotionen beim Eigenbau
    Bei einer der ersten Einladungen, die mein akademischer Lehrer, der Physiker Prof. Dr. Gerd Binnig, während meiner Postdoc-Zeit bei der IBM Research Group aussprach, bekam ich einen Schrank gezeigt, den er zu Hause selbst gebaut hatte. Es war kein Schrank, den er aus einem Bausatz mit sieben Brettern zusammengeschraubt hatte: Er hatte jedes Einzelteil eigenhändig ausgesägt und dabei eine ganz ungewöhnliche, nicht-symmetrische Form erzielt, bewusst wohlgemerkt. Er meinte, diese Tätigkeit sei gleichbedeutend mit einem Urerlebnis gewesen: ein ganz großes Glücksempfinden, da er etwas Einzigartiges, aber zugleich auch Nützliches und Alltagstaugliches erschaffen hatte. Mich beeindruckte seine

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