Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
zutreffen musste. Jede dieser Personen konnte der Chef sein: der bärtige Mann, der gerade seine Aufmerksamkeit erregte, oder der verschwitzte Mann, der ihm nicht weiter auffiel, oder der schlaksige Typ mit der Sonnenbrille und der Djellaba, der dicht an ihm vorbeischlurfte. Um fünf nach zehn glaubte er allmählich, dass keine dieser Personen sein Mann war, dass Websters Anruf ihn, wer auch immer er war, nicht so stark beunruhigt hatte, dass er ein Treffen für nötig hielt, sondern überzeugt hatte, man könne sich auf andere Weise um das Problem kümmern.
Und dann war er plötzlich da – der Mann von gestern Nacht. Klein, kräftig, sehnig und entschlossen stand er jetzt vor Webster, die Hände vor dem Bauch gefaltet, die Füße leicht auseinander, während er mit geschlossenem Mund auf etwas herumkaute. Webster spürte, wie sich sein Körper unwillkürlich zusammenzog, als die Sinneseindrücke wieder in ihm aufstiegen, sodass er abermals von Schmerzen durchzuckt wurde. Der Mann trug immer noch den gleichen Anzug, er war im Schritt zerknittert, und der offene Kragen seines weißen Hemdes starrte vor Schweiß und Schmutz. Unterhalb seines kräftigen Halses standen Büschel grauer Haare ab. Wie schon letzte Nacht schien er bereit, wie ein Kampfhund loszuspringen und über jemanden herzufallen.
Er wurde von einem Mann begleitet, den Webster nicht kannte: Er war untersetzt, hatte schwabbelige Backen und Hängeschultern. Er trug eine Laptoptasche bei sich.
»Alleine, hatte ich gesagt.« Webster blickte möglichst unverwandt in Chibas verspiegelte Sonnenbrille und fragte sich, was sich wohl dahinter verbarg.
Wortlos neigte der Mann seinen Kopf leicht zur Seite.
»Die müssen Sie schon abnehmen«, sagte Webster. »So rede ich nicht mit Ihnen.«
Zu Websters Überraschung nahm Chiba langsam seine Brille ab. Dann richtete er seine Augen auf ihn. Sie waren fast himmelblau, ihre Iris war hell gesprenkelt und die Pupille stechend und unergründlich, und sie irritierten Webster: Er hatte erwartet, Chibas Augen wären leer und aggressiv und würden allenfalls von bösartiger Intelligenz zeugen, doch sie waren lebhaft und munter, und sie strahlten unerschütterliches Selbstbewusstsein aus. Chiba schien sich für unbesiegbar zu halten.
Reglos, mit ausdruckslosem Gesicht, forderte er Webster auf, zur Sache zu kommen.
»Wissen Sie, wer ich bin?«, fragte Webster schließlich.
Chiba sagte nichts.
»Offensichtlich halten Sie mich für einen Freund von Darius Qazai. Das bin ich nicht. Er hat mich engagiert, um einen Auftrag durchzuführen. Der Auftrag ist jetzt beendet. Das ist alles.«
Immer noch keine Antwort.
»Also, was ich wissen will: Warum glauben Sie, dass man mich töten sollte?«
Chiba senkte den Kopf, kratzte sich am Hinterkopf, und als er aufschaute, blickte er Webster unverwandt in die Augen.
»Ich habe gesagt, du nichts wissen. Nicht über mich. Nicht über Qazai.« Er machte eine Pause, die Augen weiter auf Webster gerichtet. »Ich wollen, dass du stirbst. Hast du gehört? Das ist alles.«
Webster schüttelte den Kopf. »Nein. Jetzt hören Sie mir mal zu. Wie viel schuldet Qazai Ihnen?«
Er rechnete nicht mit einer Antwort und bekam auch keine.
»Einen zweistelligen Millionenbetrag? Einen dreistelligen? Er hat kein Geld. Nicht bevor er seine Firma verkauft hat. Und wenn ich das Dokument, das ich hier bei mir habe, an die CIA, an den MI6 und den Herausgeber des Wall Street Journal in London schicke, der zufällig ein Freund von mir ist, wird er seine Firma auch nicht verkaufen können.« Er griff in sein Jackett und zog aus einer Tasche ein gefaltetes Bündel DIN-A4-Blätter hervor, vielleicht fünfzehn Seiten. »Und dann sehen Sie nichts von Ihrem Geld. Lesen Sie. Sie können es behalten.«
Der Mann nahm das Dokument und fing an zu lesen. Oliver hatte es ihm heute gemailt. Es waren nur Stichpunkte, aber es hatte Hand und Fuß, und noch wichtiger, es enthielt jede Menge Einzelheiten: sämtliche Transaktionen zwischen Qazai und Kurus und darüber hinaus alles, was sie über Chiba herausgefunden hatten, all die merkwürdigen Korrespondenzen und Zufälle. Es waren zwar keine hundertprozentigen Beweise, aber dennoch von Gewicht, und in den richtigen Händen, dachte Webster, könnte das Dokument diesem Mann Probleme bereiten.
Als er zu Ende gelesen hatte, gab er die Seiten seinem Freund und sagte mit einem sarkastischen Grinsen etwas, das Webster nicht verstand und in dem das Wort »Chiba« vorkam. Der
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