Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
sich nach dem Engländer, der dort wohnt, erkundigt.«
»Kannst du herausfinden, was sie wollten?«
»Ich kann nachher jemanden anrufen.«
»Auf geht’s.«
»Ändert das nicht einiges?«
»Keine Ahnung.«
Irgendjemand hatte die Polizei verständigt. Das sah nicht nach den Leuten aus, die ihn letzte Nacht geschnappt hatten, es sei denn, sie wollten, dass man ihn verhaftet, um wieder Zugriff auf ihn zu haben. Qazai hätte kaum einen Vorteil davon. Vielleicht Senechal. Webster versuchte sich einen Reim darauf zu machen. Senechal war von einem Krankenwagen abgeholt worden, und irgendwann hatte man die Polizei eingeschaltet. Hatte er erzählt, wer ihn geschlagen hatte? Bestimmt nicht. Es stand zu viel auf dem Spiel, und es war nicht hilfreich, noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch mit Schaudern fiel Webster eine weitere Möglichkeit ein: Senechal war gestorben.
Er wurde von lähmender Furcht gepackt, die ihm die Luft abschnürte, und während Driss durch die breiter werdenden Straßen fuhr, die heiß in der Morgensonne lagen und voller Farben waren, sah er nur Senechals lebloses graues Gesicht in der Wüste.
Als sie den Menara-Airport erreichten, war der Tag gänzlich erwacht. Hoch oben vom Himmel knallte die Sonne herab, und die Klimaanlage des Wagens kämpfte gegen die Hitze an. Heute würde es noch heißer als gestern werden, sagte Driss, und Webster konnte es kaum glauben; so wenig wie die Tatsache, dass sich in den zwanzig Stunden, seit er das letzte Mal hier gewesen war, sein Leben unwiderruflich verändert hatte.
Rein logisch betrachtet, musste Senechal noch am Leben sein. Er hatte nicht besonders fest zugeschlagen, und die Wunde schien nicht tief gewesen zu sein. Es war bestimmt mehr nötig, um einen Mann umzubringen. Jemand, der gleichmäßig, fast ruhig atmete, krepierte doch nicht einfach, während er eine Stunde friedlich nachts in der Wüste lag? Doch mit Logik war Websters Erinnerung an jenen Moment nicht beizukommen, und jedes Mal wenn er ihn vor sich sah, schien der Schlag stärker und Senechals entrückte Gestalt zerbrechlicher und wehrloser zu sein. Eine beißende Mischung aus Angst und Schuldgefühlen stieg in seinem Rachen auf. Vielleicht reichte das schon: unter einem starken Groll für eine Sekunde die Beherrschung zu verlieren.
Sie parkten den Wagen, und Driss ging voraus, und während sie in der Hitze zum Terminal liefen, rauchte Webster eine Zigarette und versuchte sich ganz auf das Gespräch zu konzentrieren, das vor ihm lag. Was erwartete er sich davon? Dieser Mann sollte ihn in Ruhe lassen. Er wollte ihm erklären, dass er keine Bedrohung darstellte, dass sich das aber ändern könne.
Er war früh dran: Es war fünf vor zehn. In aller Ruherauchte er seine Zigarette, bis seine Finger heiß und voller Teer waren, und nach dem letzten Zug verspürte er das dringende Bedürfnis, sich zu bekreuzigen. Dann folgte er den Glastüren in die Ankunftshalle, wo es eiskalt war und wo reges Treiben herrschte – heute war womöglich noch mehr los als gestern. Flugzeugladungen von Touristen marschierten ins Licht, bremsten mit ihren Trolleys ab, um die Hinweisschilder zu lesen, nach Fahrern Ausschau zu halten oder mit ihren Kindern zu schimpfen. Webster musste an seinen Urlaub in vierzehn Tagen denken: Zwei Wochen Cornwall, um den Schaden, den er seiner Familie zugefügt hatte, wieder in Ordnung zu bringen. Er wünschte sich so sehr, aus unzähligen Gründen, er hätte sie nie verlassen.
Während er dem Verlangen widerstand, den Kopf zu heben oder den Stimmrekorder in seiner Brusttasche zu überprüfen, nahm er seine Position am Schalter von Royal Air Maroc ein und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Kabine. Über ihm, in einer Galerie mit Geschäften oberhalb der Haupthalle, hatten Kamila und Youssef bereits ihren Posten bezogen; ihre Aufgabe war es, Chiba zu fotografieren – mangels eines besseren Namens nannten sie ihn jetzt so – und ihm zu folgen, sobald das Treffen zu Ende war. Driss befand sich auf der gleichen Ebene wie Webster, irgendwo in der Nähe, und beobachtete ihn, um sicherzugehen, dass Chibas Männer keine Dummheiten machten.
Während Webster die Menschenmassen beobachtete, überkam ihn plötzlich ein Gefühl der Gelassenheit. Er vermutete, dass der Mann, der ihm letzte Nacht so große Schmerzen zugefügt hatte, der Mann war, den er angerufen hatte, aber als er den Blick über die Gesichter um sich herum wandern ließ, wurde ihm klar, dass das keineswegs
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