Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
sagte Kamila. Und dann freiheraus: »Wie hat Ike reagiert?«
»Er war schon wach. Und nicht besonders erfreut.« Es war kein einfacher Anruf gewesen, auch weil es so vieles gab, das er nicht erzählt hatte, und so vieles, was er immer noch nicht verstand. Als er es schließlich geschafft hatte, einen Wagen anzuhalten, die Außenbezirke der Stadt erreicht und ein Netz gefunden hatte, war über Marrakesch ein neuer Tag angebrochen; in London war die Sonne schon vor mindestens einer Stunde aufgegangen. Er hatte eine wütende Reaktion erwartet, nicht weil er ihn geweckt, sondern weil er ihn getäuscht hatte, oder weil er ihn nicht informiert hatte – ja, vielleicht weil er sich geirrt hatte; aber er hätte nicht damit gerechnet, dass Ike sich für ein Geheimnis, das kurz davor war, gelüftet zu werden, mehr interessierte als für alles andere. Er war ein wenig reserviert gewesen, und dann immer besorgter, und als Webster seine lückenhafte Zusammenfassung der Ereignisse beendet hatte, hatte er zu ihm gesagt, er solle Kamila auf ihrer Privatnummer anrufen und sich wieder bei ihm melden, wenn er geschlafen und gegessen habe.
Kamila erwiderte nichts, doch ihr Schweigen hatte etwas zu bedeuten. Sie tauchte den neuen Lappen in die Schüssel, nahm ein großes Glasgefäß, öffnete es und schüttete ein weißes Pulver in ihre Handfläche, das sie mit ihren Fingerspitzen auf die Wunde streute. Es brannte heftig, und Webster zuckte zusammen.
»Ike wusste nicht, dass ich hier bin.« Er schaute zu ihr hoch.
»Halt still. Das ist Alaun. Das desinfiziert die Wunde.« Sie streute noch mehr Pulver darauf. »Ich hab mich schon gewundert.« Während sie gründlich seinen Kopf untersuchte, gab sie ein leises zufriedenes Knurren von sich und schraubte den Deckel wieder auf das Glas. »Ich hatte das Gefühl, dass du uns irgendetwas verschweigst. Und irgendwie wirktest du sehr alleine. So«, sie trat zurück. »Lass Luft ran. Ich werd’s später verbinden. Driss macht uns jetzt ein paar Eier, und du erzählst mir, in was für eine Sache genau du uns da reingezogen hast.«
Die ganze Zeit über hatte Webster sich gefragt, welche Auswirkungen sein Einsatz auf diese Leute haben könnte, und die Erkenntnis, dass er sie in Gefahr gebracht hatte, beschämte ihn.
»Tut mir leid«, sagte er. »Das war gedankenlos von mir.«
»Mach dir keinen Kopf.« Sie lächelte zwar nicht, aber sie schaute ihn nachsichtig an. »Wenn mir Sicherheit wichtig wäre, wäre ich Buchhalterin geworden. Allerdings will ich schon Bescheid wissen.«
Webster war überrascht, wie hungrig er war. Während sie in Kamilas Küche saßen, brachte Driss ihnen Fladenbrot, Obst und Eier, und Webster erzählte ihnen alles, was er wusste, und alles, was er nicht wusste.
»Ich kapiere nicht«, kam er zum Ende, »warum er in die Sache verwickelt ist. Er ist kein Waffenhändler. Er verdient damit höchstens ein Taschengeld. Für eine Weile dachte ich, er hätte den falschen Leuten seine Seele verkauft, irgendwann früher, hätte sich mit dem Teufel eingelassen. Aber inzwischen spielt er in einer anderen Liga. Er hätte sie mit der zehnfachen Summe bestechen können.«
»Vielleicht sind die darauf nicht eingegangen.«
»Vielleicht. Nur warum sollten sie ihm jetzt ans Leder wollen?«
Kamila nickte, dachte nach. »Vielleicht hat er die ganze Zeit derartige Geschäfte gemacht.«
»Was meinst du damit?«
»Am interessantesten ist doch immer, wie ein Mann seine erste Million verdient hat. Hat er dir das erzählt?«
Webster dachte an die unbefriedigenden Gespräche in der Mount Street und am Comer See. »Nein. Nein, hat er nicht.«
»Damals sind viele Leute zu viel Geld gekommen. Nachdem der Schah das Land verlassen hat. Alle wollten Waffen. Die Leute in der Diaspora. Die Revolutionäre. Vielleicht war Darius Qazai zur rechten Zeit am rechten Ort. Vielleicht hat er die Geschäfte einfach fortgeführt.«
Webster dachte einen Moment darüber nach. »Ich weiß nur, dass er ihnen eine Menge Geld schuldet, und dass sie ihn nicht töten, bis sie es haben. Erst dann ist er fällig.«
»Aber offensichtlich macht es ihnen Spaß, alle anderen zu töten.«
Für ein paar Sekunden saßen sie schweigend da. Dann ergriff Kamila das Wort.
»Was hast du jetzt vor?«
Webster stützte den Kopf in seine Hand und massierte sich die Schläfen. Er dachte über die verschiedenen Puzzleteile der Geschichte nach. Senechal hatte man inzwischen bestimmt gefunden: Als Webster sich mit Kamila in
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