Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
verletzlichere Menschen, als wir es je waren. Wir hatten eine ungefähre Vorstellung von dem, was er beruflich machte, denn er hatte es uns, wie alles andere, erklärt. Natürlich nicht in sämtlichen Einzelheiten, und in gewisser Weise weiß ich es immer noch nicht. Aber wenn ich an die zahllosen Menschen denke, die er behandelt hat, stelle ich mir vor, dass sie durch seine Arbeit ermutigt, verändert und manchmal sogar geheilt wurden. In dreißig Berufsjahren sind das Abertausende von Existenzen gewesen, die eine Wende zum Besseren erfahren haben, manchmal kaum merklich, manchmal auf völlig unerwartete Weise. Tausende von Menschen, die dank ihm weniger furchtsam, weniger ängstlich sind.«
Er schaute erneut zu seiner Schwester. »Das ist ein schönes Vermächtnis, keine Angst vor der Dunkelheit zu haben. Wenigstens Rachel nutzt tagtäglich ihre Kräfte.« Er lächelte. »Und ich glaube, dass wir beide das Bedürfnis haben, etwas, das wir nicht verstehen, zu verstehen. Dad hat uns gezeigt, wie man die Welt erkundet.«
Webster hielt inne, trank einen Schluck Wein aus einem der Gläser vor ihm und schaute zu seinem Vater hinunter, der mit einem gütigen angedeuteten Lächeln auf die Tischdecke starrte. In dem kleinen Zimmer war es vollkommen still, und das Kerzenlicht warf flackernde Schatten an die Wände.
»Ich werde aufhören, bevor das noch in eine Lobrede ausartet. Ich werde nicht erzählen, welch ein wunderbarer Vater er war, oder welch ein wunderbarer Ehemann er wohl gewesen sein muss – zumindest soweit ich weiß. Und auch nicht davon, dass er hier im Ort ein Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit ist.« Sein Vater lachte. »Gut, wir sind hier nicht auf einer Beerdigung, und der Mann zu meiner Rechten mag es, wie Mr. Jarndyce, gar nicht, wenn er gelobt wird. Mit etwas Glück bleibt diese kleine Rede die letzte für lange, lange Zeit. Aber der fünfundsechzigste Geburtstag ist kein schlechter Zeitpunkt, um Bilanz zu ziehen, und, na ja, es gibt eine Menge zu bilanzieren. Schrecklich viel. Er hätte kein besseres Vorbild sein können. Darum ist er so entmutigend. Ein kleines bisschen.«
Webster nahm sein Champagnerglas, das extra für diesen Anlass gefüllt worden war, und erhob es.
»Auf einen mutigen Mann.«
Die anderen wiederholten seine Worte und tranken, und Patrick Webster, der immer noch lächelte, drehte sich zu seinem Sohn um und nickte ihm innig und bescheiden zu.
10
Da es heute sehr warm sei, sagte Qazai zu Webster bei der Begrüßung, werde das Mittagessen in der Loggia mit Blick auf den See serviert; selbst Ende Mai komme es häufig vor, dass der Wind vom Wasser her noch recht frisch sei, aber heute hätten sie wohl den ersten richtigen Sommertag. Timur und seine Familie seien bereits gestern Abend eingetroffen, und jeden Moment müsse Ava folgen.
Qazai gab einem Diener ein Zeichen, damit er dem Taxifahrer das Gepäck abnahm, dann legte er Webster seine Hand sanft auf den Rücken und führte ihn ins Haus, während er sich erkundigte, wie die Reise war, und stellte ihm Francesco vor, einen eleganten Mann in den Fünfzigern, der neben einer riesigen Doppeltür stand, um ihrem Gast die größte Gästesuite zu zeigen. Essen sei um eins.
Die wahrhaft königliche Gästesuite in der Villa Foresi war ein Eckzimmer im ersten Stock. Auf einer Seite erstreckte sich der Comer See, und an die andere grenzte eine begrünte Terrasse, von der mehrere Zypressen emporragten.
An den Wänden in einem erlesenen Hellgrau hingen Stoffstücke in Rahmen, und der Fliesenboden war zur Hälfte mit einem grünen Seidenteppich bedeckt. Das waren die einzigen Anzeichen für Qazais Geschmack; den Rest, vermutete Webster, hatte erst vor Kurzem ein Raumausstatter äußerst dezent eingerichtet.
Mehrere Glastüren gingen auf einen Balkon hinaus, und in der halben Stunde, bis er unten erwartet wurde, saß Webster draußen, beobachtete die Boote auf dem See und die Bediensteten, die das Mittagessen vorbereiteten, und rauchte eine Zigarette; bestimmt nicht die letzte für heute.
Elsa fehlte ihm. Es hätte ihr hier gefallen. Das Haus stand auf einer kleinen Halbinsel, die dicht mit Kastanienbäumen und Zypressen bewachsen war und die weit in den See ragte, und es wirkte, als würden sich drei Häuser stufenartig über den Hügel hinunter zum Wasser erstrecken. Das Gebäude musste zweihundert, vielleicht dreihundert Jahre alt sein, und obwohl sich alles in makellosem Zustand befand – die apricotfarbenen Wände und die
Weitere Kostenlose Bücher