Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
da tat, und warf Raisa einen Blick zu. »Nein, wusste ich auch nicht.«
»Der älteste Baum in Asien«, sagte Qazai und musterte Ava eingehend, nachdem sie sich wieder zu ihm umgedreht hatte, »ist eine iranische Zypresse.«
Ava nickte lebhaft. »Und, Mr. Webster, waren Sie schon mal im Iran?«
»Nein, bisher nicht. Ich weiß nicht, ob jemand mit meinem Beruf das Land besuchen sollte.«
Ava zog die Augenbrauen hoch, als wollte sie ihn fragen, was denn dagegen spreche.
»Man könnte vermuten, ich sei ein Spion.«
»Was natürlich nicht stimmt.«
Webster lächelte.
»Wie alt sind Sie, Mr. Webster?«, fragte Qazai.
»Achtunddreißig.«
»Dann hoffe ich, dass sich für Sie eines Tages die Gelegenheit ergibt.«
»Glauben Sie, dass es je dazu kommen wird?«
Qazai lehnte sich zurück, holte langsam Luft und dachte demonstrativ nach. Vom Ende des Tisches konnte man hören, wie Farhad mit Messer und Gabel klapperte.
»Ich habe große Hoffnungen. Ja, große Hoffnungen. Aber auch große Sorge.«
Leise nahm Timur Farhad das Besteck ab, und alle warteten darauf, dass Qazai weiterredete, gaben dem Patriarchen seine Zeit. Ava senkte den Blick und pochte mit den Fingern sanft auf die Tischdecke. Sie hatte lange, unlackierte Nägel.
»Es ist unmöglich«, sagte Qazai, »dass derartig schwache Menschen ein Land, das so alt ist, so … mutig, für lange Zeit unterdrücken. Das sind Schurken. Wüstenhunde. Das iranische Volk wird mit ihnen kurzen Prozess machen. Aber momentan – dieses Jahr, nächstes Jahr – werden diese Leute tun, was sie in den letzten zwei Jahrzehnten so erfolgreich praktiziert haben. Sie werden versuchen, ihre Landsleute zu terrorisieren.« Er war jetzt voller Leben, und er trank einen Schluck Wein, bevor er fortfuhr. »Immerhin haben wir nicht mehr so viel Angst wie früher. Vielleicht dauert es nicht mehr lange. Was in Ägypten, in Tunesien passiert ist – die Menschen sehen, dass es möglich ist. Sie spüren die Lüge der Macht. Ihre trügerische Realität.«
Qazai beugte sich vor und stellte sein Weinglas ab, um zu signalisieren, dass er fürs Erste fertig war; Ava lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, und Webster meinte, sie dabei leise seufzen zu hören. Einen Moment lang sagte keiner etwas, und Qazai sah seine Tochter ruhig, aber eindringlich an, als wollte er ihr zu verstehen geben, dass ihm ihr wie auch immer gearteter Einwand nicht entgangen war, er jedoch nicht bereit sei, in Gesellschaft anderer darauf zu reagieren. Ohne ihm in die Augen zu blicken, hob sie ganz leicht die Augenbrauen, schaute nacheinander Parviz und Raisa an und streckte dann die Hand nach dem Brot aus, das der Kellner gerade mit einer Silberzange auf ihren kleinen Teller gelegt hatte. Timur und Raisa versuchten, Farhad, der immer unruhiger wurde, unauffällig zu beschäftigen.
»Haben Sie viel im Iran zu tun, Mr. Webster?«, sagte Qazai schließlich und wandte sich in seine Richtung. Er lächelte, doch seine Stirn warf Falten, und es war nicht zu übersehen, dass er sich über diesen kleinen öffentlichen Akt des Ungehorsams ärgerte. Webster fragte sich, ob er sämtliche Gespräche mit seiner Familie so kontrollierte, und suchte nach einem unverfänglichen Thema, auf das die anderen bedenkenlos einsteigen konnten.
»Hin und wieder. Es ist nicht ganz unproblematisch,dort unsere Tätigkeit auszuüben. Das können Sie sich bestimmt vorstellen. Obwohl es schlimmere Orte gibt.«
Raisa ging dankbar auf das Angebot ein. »Welche denn, Mr. Webster?«
»Ben, bitte.« Raisa lächelte und nickte. »Das hängt davon ab, was man unter schlimmer versteht. Aus Polen wird man nicht schlau. Die Deutschen wollen einem nichts verraten. Und es gibt keine chaotischere Region als den Balkan.«
Raisa lächelte. »Bestimmt sollte ich mich jetzt geschmeichelt fühlen, Ben.«
Webster schien verwirrt.
»Ich komme aus Slowenien«, sagte sie. »Falls das auch dazugehört.«
»Oh, ich denke schon«, sagte Webster.
»Und der gefährlichste Ort?« Ava hatte sich offensichtlich wieder gefasst und trug zur Konversation bei.
Webster überlegte einen Moment. »Nun, der Iran gehört dazu. Auf jeden Fall der Irak. Teile Afrikas. Und Russland.«
»Ich habe von Ihren Schwierigkeiten dort gelesen, Mr. Webster«, sagte Qazai. »Das war bestimmt keine einfache Zeit.«
Seine Bemerkung irritierte Webster. Zwar ließen sich die Artikel darüber leicht aufstöbern, aber es überraschte ihn, dass Qazai sich diese Mühe gemacht hatte, und
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