Die Lady mit dem Bogen
Er war treulos wie ihr Vater, sie wollte nichts mit ihm zu schaffen haben.
Und jetzt stand seine Schwester vor Mallory.
»Warum seid Ihr nicht eher zum Training gekommen?«, fragte Mallory.
»Ich glaubte, ich würde nicht bis zum Schluss teilnehmen können.« Ihre Augen wurden traurig. »Landis hatte schon angedeutet, er würde nicht lange in Poitiers bleiben, und als Lady Violet ihre Verlobung mit Sir Godard ankündigte, war ich sicher, Landis würde fortwollen. Ich hätte mit ihm gehen müssen.«
»Warum das?«
»Mein Bruder liebt Lady Violet heiß und innig.« Erschrocken legte sie den Zeigefinger auf ihre Lippen. »Ich hätte nichts sagen sollen. Wenn es allgemein bekannt würde, wäre es für beide sehr peinlich, da sie nun Sir Godard erhörte.«
»Ich werde nichts weitersagen.« Mallory ließ unausgesprochen, dass die komplizierten Beziehungen im Palast sie wenig kümmerten. »Habt Ihr schon einmal mit einem Bogen geschossen?«
»Nur ein paar Mal. Landis missbilligt es, wenn eine Frau mit Waffen umgeht.«
Mallory verbarg ihr Erstaunen, da d’Ambroise sich überschwänglich und voll des Lobes über ihr Talent mit dem Bogen und vor allem über ihr Training geäußert hatte. Waren denn alle Männer in Poitiers abgefeimte Lügner?
Wenn er nicht seine Laute schlägt oder eine Dichtung vorträgt, kann man seiner Aufrichtigkeit sicher sein. Sie wollte der Königin sagen, dass diese Einschätzung so falsch war wie alles, was Saxon innerhalb der Palastmauern von sich gab.
»Zeigt mir, was Ihr könnt«, sagte Mallory und reichte dem Mädchen einen in der Größe annähernd passenden Bogen. Ihn zu spannen bedurfte keiner großen Kraft.
Lady Fleurette nahm den Bogen und spannte die Sehne mit einer Leichtigkeit, die erkennen ließ, dass sie über ihr Können bescheiden geurteilt hatte. Mit einem Blick zu Mallory griff sie nach dem Köcher mit den Übungspfeilen und nahm einen heraus. Sie wog ihn in der Hand und tat ihn beiseite. Dann prüfte sie den nächsten, legte ihn an und hielt den Bogen gerade an der Hüfte.
»Auf Euer Kommando, Mylady«, sagte sie.
Mallory lächelte. »Ich glaube, Ihr habt mehr Übung, als Euer Bruder wissen darf.«
»Ein wenig mehr.« Sie lächelte leicht.
»Hebt den Bogen, Lady Fleurette.«
Das Mädchen gehorchte.
»Los«, befahl sie.
Lady Fleurette zog die Sehne bis ans Kinn zurück und ließ sie los. Der Pfeil flog in hohem Bogen in die Luft und landete vor dem Heuschober auf dem Boden.
Lady Fleurette senkte den Bogen. Aus ihrem Blick sprach Enttäuschung. »Daneben.«
»Ihr wart besser als alle anderen Damen.«
»Ach?« Das Lob entlockte ihr ein Lächeln und dann ein Kichern. »Aber ich weiß, dass ich das Ziel treffen kann.« Wieder hob sie den Bogen und spannte die Sehne.
Mallory hielt sie zurück, indem sie ihr die Hand auf den Arm legte. »Spannt niemals die Sehne, wenn kein Pfeil daran liegt.«
»Warum nicht? Ich kann das Ziel nicht verfehlen, wenn kein Pfeil eingelegt ist.«
»Sehne und Bogen erschlaffen, wenn man sie leer spannt.« Ging der Trainingsbogen zu Bruch, musste Mallory einen neuen machen, und sie hatte noch Narben an den Fingern von den letzten beiden, die sie aus Eschenholz in der Abtei angefertigt hatte. »Beim nächsten Versuch werdet Ihr das Ziel treffen.«
»Woher wisst Ihr das?«
»Weil Ihr den Bogen so halten werdet, dass linker Arm und Pfeil eine Linie bilden.« Sie bückte sich nach ihrem Bogen. Anders als bei den Trainingsbogen zeigte keine Markierung an der Sehne an, wie man den Pfeil anlegen musste. »Seht her.«
Mallory drehte sich so, dass das Ziel zu ihrer Linken war. Rasch blickte sie um sich. Die Damen waren hinter der Stadtmauer verschwunden, und Lady Fleurette war dicht an ihrer Seite. Unter den Bäumen am Fluss war niemand zu sehen. Es war nicht zu erwarten, dass ihr Pfeil in diese Richtung fliegen würde, doch vergaß sie nie die Regel, nach allen Richtungen Ausschau zu halten, ehe sie einen Pfeil abschoss. Niemand stand zwischen ihr und dem Ziel. Sie griff in den Köcher, den sie am Rücken trug, und suchte einen Pfeil heraus. Sie legte ihn an die Sehne an und schoss.
Ihr stockte der Atem, als plötzlich ein zweiter Pfeil parallel zu ihrem Pfeil daherschwirrte, nur ein Fingerbreit von diesem getrennt. Die Pfeile trafen gleichzeitig das Ziel genau in der Mitte, weniger als ein Zoll entfernt.
Sie wirbelte herum und sah, dass das Feld bis auf sie und Lady Fleurette leer war. Eine Staubwolke hüllte sie ein, sie musste husten und
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