Die Lady mit dem Bogen
Zukünftige?«
Ihr Lächeln verflüchtigte sich, als Mallory die Stirn runzelte und auf einen mit einem Laken verhüllten Heuschober deutete, der etwa dreißig Yards näher zum Fluss stand. »Euer Pfeil ist vermutlich ruiniert, da der Schaft geknickt sein dürfte, als er den Baum traf. Holt ihn und seht nach, ob er noch zu gebrauchen ist.«
»Wie soll ich das machen?«
»Rollt ihn nah am Ohr zwischen den Fingern. Achtet auf ein Knackgeräusch. Es zeigt an, dass der Schaft innen gebrochen ist. Nachdem Ihr ihn aus dem Baum gezogen habt …«
»Aus dem Baum ziehen? Ihr erwartet von mir, ich solle einen Pfeil aus einem Baum ziehen?« Lady Violets Erregung ging in Ärger über. »Ich bin nicht Eure Dienerin.«
»Nein, das seid Ihr nicht. Ihr seid meine Schülerin, und Ihr werdet gehorchen, wenn Ihr weiterhin bei mir lernen wollt.«
Lady Violet, die den Bogen auf den Boden warf und mit einem Sprung auswich, als er auf sie zusprang, stürmte davon. Sie blickte über die Schulter, worauf die anderen Damen der Gruppe zu Mallory gingen. Eine jede warf ihren Bogen Mallory vor die Füße, ehe sie mit stolz gerecktem Kinn ihrer Freundin nachfolgten.
Einen Augenblick erwog Mallory, sie zurückzurufen. Sie hatte der Königin versprochen, ihren Damen das Bogenschießen beizubringen. Konnte sie ihre Schülerinnen nicht zum Bleiben bewegen, wurde sie ihrem Versprechen nicht gerecht.
Da wandte Lady Elita sich um und sagte mit überlegenem Lächeln so laut, dass Mallory es nicht überhören konnte: »Wenn wir Saxon finden, könnte er uns das Lied vortragen, das er eigens für mich schuf.«
Zorn brodelte in ihr auf, als sie sich Saxon vorstellte, Lady Elita in den Armen haltend, wie er letzte Nacht sie hatte halten wollen, und fast hätte sie die hitzige Antwort hervorgestoßen, die ihr auf der Zunge brannte. Eingedenk der Streitigkeiten ihrer Mutter mit den Geliebten ihres Vaters bezwang sie sich. Sie zwang die Wut dorthin zurück, wo sie sie meist verbarg, und gab keine Antwort.
Lady Elita senkte ihren Blick als Erste, doch empfand Mallory kein Triumphgefühl. Nie würde sie sich zu jenem Kampf zwischen Frauen verleiten lassen, dem Männer offenbar allzu gern zusahen, wenn auch keine Frau wirklich triumphieren konnte, während ein Mann nach Belieben mit ihren Gefühlen spielte. Sie würde sich nicht in einen Kampf verstricken lassen, den sie nie gewinnen konnte.
Sie bückte sich nach den Bogen und versuchte, nicht daran zu denken, dass sie Saxons Berührung nie wieder spüren würde.
»Er ist ein Troubadour«, sagte sie sich, als sie einen Bogen von der Sehne befreite, dann den nächsten. »Er bezaubert alle. Würde ich mich noch mehr von ihm betören lassen, wäre es ein Beweis dafür, dass ich nicht mehr Verstand habe als Mutter.« Sie griff nach dem nächsten Bogen.
»Darf ich es versuchen?«, ließ sich eine leise Stimme vernehmen.
Mallory war erstaunt, ein Mädchen zu sehen, dass noch nie zum Training gekommen war. Ihr Haar war hellbraun, nur ein wenig dunkler als Lady Elitas Haar. Ihre Nase war mit Sommersprossen gesprenkelt, doch war nichts Kindliches an dem Ausdruck in den dunkelgrünen Augen. Ihr Blick verriet eine Kraft, wie sie Mallory selten begegnet war, seitdem sie die Abtei verlassen hatte.
»Wer seid Ihr?«, fragte sie.
»Ich heiße Fleurette d’Ambroise.« Sie lächelte schüchtern und sah plötzlich sogar noch jünger aus als zwölf, wie Mallory sie schätzte. »Ich möchte die Kunst lernen, die Ihr beherrscht, Lady Mallory. Nicht nur mit dem Bogen, sondern auch andere, waffenlose Kampfarten. Lady Violet verriet meinem Bruder, dass Ihr es darin zur Meisterschaft gebracht habt.«
»Euer Bruder?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort zu kennen glaubte.
»Landis d’Ambroise, ein Ritter im Dienst unserer allergnädigsten Königin.«
Nur mit größter Mühe behielt Mallory ihr Lächeln bei. In den letzten drei Tagen war der junge Mann jedes Mal an ihre Seite geeilt, wenn sie die große Halle betreten hatte. Und jedes Mal hatte er sie wegen ihrer Besonnenheit beim jüngsten Angriff am Fluss mit übertriebenen Komplimenten überschüttet. Gleichzeitig drängte er sie, mit ihm im Garten zu lustwandeln. Dass sie seine Einladungen mit Ausflüchten abgewehrt hatte, die er vermutlich nicht glaubte, schien ihn nicht abzuhalten, weiterhin zu versuchen, sie zu verführen – sie und Lady Violet, wie sie zugeben musste, da sie ihn oft mit der Lady hatte sprechen sehen, wiewohl diese Saxons Bruder versprochen war.
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