Die Lady mit der Feder - Roman
Odette hielt eine Nuss in der Hand, während sie mit der anderen nach der Käfigöffnung griff.
»Was ist da drinnen?«, fragte Isabella.
»Mein zahmes Eichhörnchen.«
»Ein Eichhörnchen?« Sie rümpfte die Nase.
»Das ist mein lieber Peppy.« Die Lady öffnete den Käfig.
Isabella sah erstaunt zu, als ein großes Eichhörnchen den Arm der Lady entlanglief. Es nahm eine Nuss von ihr entgegen und setzte sich auf ihre Schultern. Dort hockte es, emsig
kauend, wobei seine Äuglein mit sichtlichem Argwohn auf Isabella gerichtet waren.
»Ihr habt ein Eichhörnchen als Schoßtier?«, fragte sie.
Lady Odette streichelte den Kopf des Tieres, eine Liebkosung, die diesem nicht behagte, da es nach ihr schnappte. »Alle Damen besitzen diese niedlichen Tierchen. Ich dachte, das wüsstet Ihr.«
»Ich war so stark mit meinen Studien beschäftigt, dass ich leider keine Zeit für die Interessen anderer hatte.«
Lady Odette bedachte sie mit einem breiten Lächeln. »Dann gestattet, dass ich Euch alles beibringe, Lady Isabella.«
»Das ist eigentlich nicht nötig.« Sie versuchte sich die Reaktion ihrer Mitschwestern vorzustellen, wenn sie mit irgendeinem Tierchen auf der Schulter in die Abtei zurückkehrte.
»Doch, es ist nötig. Bouchard sagte, dass wir wegen dieses dummen Sheriffs in Lord le Courtenays und Eurer Schuld stehen. Wenn ich Euch nützen kann, indem ich Euch wichtige Hinweise gebe, ist es nur eine kleine Entschädigung für erlittene Unbill.«
Isabella wollte schon widersprechen, dann fiel ihr ein, dass sie, sobald die Briefseiten gefunden waren, das kostbare Päckchen Königin Eleanor persönlich übergeben mussten. Einen Fauxpas am Hof der Königin zu begehen, wäre nicht nur für sie selbst eine Schande, sondern auch für die Abtei. Wenn Isabella aus Lady Odettes Belehrungen Nutzen ziehen wollte, musste sie eine aufmerksame Schülerin sein.
»Das ist sehr gütig von Euch, Mylady«, sagte Isabella.
Lady Odette hob das Eichhörnchen von ihrer Schulter und nahm es wie ein Kind auf den Arm. Das Tier produzierte wütende Schnarrlaute, die sie ignorierte. »Dann fangen wir mit
der vertraulichen Anrede an, mit der Ihr Lord le Courtenay ansprecht. Ihr könnt von Glück reden, dass nur Bouchard und ich Zeugen Eures Fehlers waren.«
»Aber Jordan fragte …«
»Ihr müsst zuhören, Mylady, nicht widersprechen.«
Isabella sagte nichts, als Lady Odette sämtliche Gründe anführte, die es einer Frau verboten, den Vornamen eines Mannes zu benutzen. Während sie den zahlreichen, ihr sinnlos erscheinenden Regeln zu folgen versuchte, fragte sie sich, ob sie zu rasch in die Lektionen eingewilligt hatte. Für diese Belehrungen hatte sie zwar nicht ihre Seele dem Teufel verkauft, doch wusste sie, dass es teuflisch sein würde, sie zu befolgen.
Einerlei.
Sie hatte zu viele Lektionen in der Abtei geschwänzt. Wäre sie so geübt wie viele ihrer Mitschwestern, hätte sie den Mann vor dem Tod bewahren und herausfinden können, warum er das Messer wollte. Sie argwöhnte, dass sie auf der Suche nach den Dokumenten und bei deren Übergabe an die Königin alles brauchen konnte, was die Lady ihr beibrachte. Daran sollte sie denken und nicht an den nach erfolgreichem Abschluss ihrer Mission drohenden Abschied von Jordan … von Lord le Courtenay, korrigierte sie sich. Die schwerste Lektion würde es sein zu lernen, ihn wieder so förmlich anzusprechen.
10
V ater Eloi schwenkte das Weihrauchfass um den Steinsarg mit Ryces sterblichen Überresten. Als der Priester die Segensformel über der verhüllten Gestalt auf dem Boden vor dem Sarg wiederholte, verkrampften sich Jordans Finger so sehr, dass er sicher war, das Knacken wäre in der ganzen Kapelle zu hören.
Der namenlose Schuft verdiente es nicht, dass seine Totenmesse gemeinsam mit jener für Ryce de Dolan gelesen wurde. Ryce war ein Ehrenmann gewesen und hatte nach ritterlichen Idealen gestrebt, während die verhüllte Gestalt jene eines gemeinen Diebes war, der vor einem Mord nicht zurückgeschreckt wäre, hätte Isabella ihn nicht überwältigt.
Ein Vogel zwitscherte in den Dachsparren.
Er sah Sonnenstrahlen durch das Strohdach einfallen. Wie die ganze Burg, so war auch die Kirche renovierungsbedürftig. Er wünschte, er hätte bleiben und sich um die notwendigen Arbeiten kümmern können, doch hatte er Isabella versprochen, sie nach Lincoln zu begleiten.
Er senkte den Kopf und spähte nach rechts, wo sie stand, den Blick auf den Boden gerichtet. Sie bewegte die
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