Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
ihm einen kurzen Blick zu und schaute dann wieder hinunter aufs Wasser. »Ja, ich habe ihr gesagt, dass Sie nie so an mich denken könnten wie ich an Sie.«
»Charlotte …«
Sie fuhr rasch fort: »Denn Sie haben bereits vier Schwestern, aber ich hatte nie einen Bruder.«
Sie drehte sich zu ihm um und sah ruhig zu ihm auf. »Und ich habe mir immer einen gewünscht.«
Seine Augen schimmerten. Er neigte den Kopf und brachte sein Gesicht ganz dicht an ihres. »Es wäre mir eine Ehre, Ihr Bruder zu sein.«
So blieben sie einen Augenblick stehen, in einem Schweigen, das schwer war von Ungesagtem.
Dann holte Charlotte tief Luft. »Sally bedeutet mir viel, wie Sie sicher gemerkt haben. Ich hoffe, Sie … und Lizzy … werden freundlich zu ihr sein.« Sie legte ihre Hand auf ihr Herz. »Es würde mich freuen, wenn Sie ihr Ihre Aufmerksamkeit schenken.«
Er fragte ruhig: »Würde es das?«
Sie nickte. »Ja.«
Er straffte sich, blickte sie aber an, ohne zu sprechen. Dann reichte er ihr die Hand. Das war, gelinde gesagt, ungewöhnlich, aber Charlotte verstand den Impuls, aus dem diese Geste entsprang. Die Kulmination der Gefühle musste sich irgendwie Luft machen: entweder in einer Umarmung oder in einem Händeschütteln. Ersteres wäre unschicklich, töricht und unfair allen Beteiligten gegenüber gewesen. So ergriff sie stattdessen seine Hand mit ihrer sehr viel kleineren und spürte seinen erwidernden Druck. Sie hielt sie einen Augenblick fest und ließ dann los.
Charlotte nippte an ihrem Tee. Sie saß im Speisesaal des Gasthauses und wartete auf die Postkutsche. Sie hatte darauf bestanden, dass Thomas nicht mit ihr wartete, sondern zu seiner Arbeit zurückkehrte. Er war gegangen, wenn auch zögernd.
Plötzlich ging die Tür auf und Dr. Kendall kam herein, den Hut in der Hand und völlig außer Atem. »Miss Lamb, ich bin so froh, dass ich Sie noch antreffe. Dürfte ich Ihre Geduld vielleicht noch etwas länger strapazieren?«
»Aber natürlich. Bitte, setzen Sie sich doch, Dr. Kendall.«
»Danke.« Er nahm Platz und beugte sich über den Tisch zu ihr hinüber. »Gerade hat mich ein Ehepaar aufgesucht. Sie brauchen ganz dringend eine Amme für ihren kleinen Sohn. Die junge Mutter kann ihn nicht stillen und der Vater fürchtet, dass er Schaden nimmt.«
»Worin liegt das Problem?«
»Nun, das ist eine zu delikate Angelegenheit, um sie hier zu erörtern. Aber wenn Sie mitkommen könnten in meine Praxis und sie dort selbst kennenlernen …«
»Aber meine Kutsche …«
»Die Kutsche nach London mit Halt in Crawley fährt zweimal täglich, Miss Lamb. Wenn Sie Ihre Abreise wenigstens bis zur Nachmittagskutsche aufschöben oder vielleicht auch bis morgen, käme das Paar ganz sicher für die Übernachtungskosten auf. Oder ich werde es tun, wenn Sie gestatten.«
»Ich wollte eigentlich nicht weiter als Amme arbeiten.«
»Es wäre nur vorübergehend. Ich bin sicher, die Mutter wird ihren Sohn irgendwann selbst stillen können, wie sie es sich im Übrigen brennend wünscht.«
Er lehnte sich noch näher zu ihr. »Sie können doch noch …, oder was meinen Sie?«
Sie senkte den Blick und zog dabei die Schultern nach vorn, um ihre prallen Brüste zu verbergen. Dann nickte sie.
»Wenn Sie die Not und den Hunger des Kindes wenigstens für ein paar Stunden lindern könnten – das Ehepaar würde sich mit Sicherheit als sehr großzügig erweisen.«
Charlotte wollte eigentlich kein anderes Kind stillen. Aber sie konnte den Gedanken, dass ein Baby Hunger litt, nicht ertragen. »Ich komme.«
»Ich danke Ihnen. Ich habe den beiden bereits von Ihnen erzählt. Sie warten schon auf uns. Wenn Sie nichts dagegen haben …?«
»Mein Gepäck …«
»Ich werde den Gastwirt bitten, es für Sie aufzubewahren. Bis Sie einen Entschluss gefasst haben.«
»Danke.«
Sie gingen raschen Schrittes durch die Stadt zu Mr Kendalls Praxis, wo er sie ohne Umstände mit seinen Klienten bekannt machte. »Mr und Mrs Henshaw, darf ich Ihnen Miss Charlotte Lamb vorstellen.«
Charlotte knickste.
Mr Henshaw war älter, als sie erwartet hatte, wahrscheinlich Anfang fünfzig. Er war gut gekleidet, hatte markante Gesichtszüge und hellbraunes Haar, das er mit Seitenscheitel trug. Er blieb sitzen, die Beine übereinandergeschlagen, und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Seine Frau war noch sehr jung, kaum älter als siebzehn oder achtzehn, schätzte Charlotte. Sie war ein anmutiges, liebliches Mädchen mit blondem, nach der neuesten Mode aufgestecktem
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