Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
wusste nicht, dass Edmund einen Gast hat.«
»Das ist schon in Ordnung. Ich wollte gerade gehen.«
Die Frau ging an ihnen vorbei in Edmunds Zimmer.
Charlotte spürte, dass Edmund sie am Ärmel zupfte. »Vater geht mit mir in den Zirkus.«
»Wie schön.«
»Aber Sie können mir zuerst vorlesen.«
Sie lächelte ihn an. »Nichts würde ich lieber tun, aber ich fürchte, ich muss jetzt gehen.«
»Ach so. Dann soll Papa mir vorlesen. Das macht er gern.«
»Ja, ich weiß«, sagte Charlotte leise. Sie streckte zögernd die Hand nach Edmund aus und berührte ihn kurz an der Schulter. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, lieber Edmund.«
In dieser Nacht konnte Charlotte nicht schlafen. Unaufhörlich warf sie sich im Bett herum. Ihr Magen knurrte. Sie hätte abends mehr essen sollen. Schließlich gab sie auf und tastete nach ihrem Morgenrock, der normalerweise am Fußende des Bettes lag, doch sie griff ins Leere. Wahrscheinlich war er zusammen mit den anderen Kleidern auf den Boden gerutscht. Na gut. Jedenfalls würde sie keine Kerze anzünden und damit riskieren, Anne aufzuwecken. Außerdem war es im Haus warm und um diese Zeit würde sie sowieso niemand sehen.
Nur im Nachthemd schlich sie auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Im Gang hörte sie John Taylors leises Schnarchen, als sie an seinem Zimmer vorbeihuschte. Sie ergriff den Kerzenhalter, der immer auf dem Tischchen am Treppenabsatz stand, und stieg die vielen Treppen hinunter in die Küche. Dort stellte sie die Kerze ab und öffnete den Eisbehälter. Sie holte die Flasche mit Milch heraus, machte Feuer im Herd und goss etwas Milch in einen Topf, um sie warm zu machen. Dann suchte sie sich einen Apfel aus dem Obstkorb aus. Sie legte ihn auf den Küchentisch, holte sich ein scharfes Messer und wollte die Frucht in Stücke schneiden.
Plötzlich ging hinter ihr die Tür auf und sie fuhr zusammen. Das Messer glitt in ihren linken Zeigefinger. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, mehr vor Schreck als vor Schmerz, und wandte sich halb um. Überrascht und erleichtert sah sie Dr. Taylor in der Tür stehen, seine Arzttasche in der Hand.
»Sie haben mich aber erschreckt.«
»Verzeihen Sie. Ich dachte nicht, dass noch jemand auf ist.«
Charlotte merkte, dass ihr Finger klopfte. Sie steckte ihn in den Mund und schmeckte Blut.
»Ich habe mich geschnitten.«
»Schlimm?«
Sie trat näher an die Kerze, er ebenfalls. Ihre Erleichterung darüber, dass der nächtliche Eindringling Dr. Taylor war, wich unter dem Bewusstsein, dass sie nur ein dünnes Nachthemd trug.
»Lassen Sie mal sehen.«
Er nahm ihre linke Hand in seine und drehte ihre Handfläche nach oben. Mit seiner freien Hand untersuchte er vorsichtig ihren Zeigefinger. Ihr Herz klopfte im Takt mit dem Pulsieren der kleinen Wunde.
»Ich werde das lieber säubern.« Geschickt entnahm er seiner Arzttasche ein Fläschchen mit einem Antiseptikum. Er hielt ihre Hand über das Ausgussbecken und goss etwas von der Flüssigkeit über die Wunde. Es brannte und sie rümpfte die Nase über den Geruch.
»Ich werde es ein bisschen verbinden«, sagte er ruhig.
Er holte eine schmale, aufgerollte Binde aus seiner Tasche und kam wieder zu ihr. Dann hielt er ihre Hand näher ans Licht und beugte sich darüber. Sie merkte, dass sie ganz flach und hastig atmete, während er ihr sanft und geschickt die Binde um den Finger wickelte und befestigte. Der Vorgang schien ihr allerdings recht viel Zeit in Anspruch zu nehmen, denn er überprüfte seine Arbeit noch einmal genauestens und hielt dabei die ganze Zeit ihre Hand fest. Sie konnte nur hoffen, dass er nicht merkte, welche Auswirkung seine Nähe auf sie hatte.
Immer noch ohne ihre Hand loszulassen blickte er von ihrem Finger auf in ihr Gesicht. Seine Augen leuchteten, seine Pupillen waren im Kerzenlicht dunkel und riesengroß.
Fühlte denn nur sie diese Spannung, diesen köstlichen und erschreckenden Schmerz?
Um das Gefühl zu vertreiben, sagte sie mit schwacher Stimme: »Wer hat im Manor House Dienst?«
»Thomas ist für mich eingesprungen. Er meinte, ich sähe aus wie eine wandelnde Leiche.«
Sie lächelte und sagte verlegen: »So sehen Sie nicht aus … nicht für mich.«
Seine Augen wanderten über ihr Gesicht. »Sie auch nicht.«
Sie schluckte und sagte unnötigerweise: »Ich konnte nicht schlafen.«
Er blickte wieder auf ihre Hand hinunter, als merke er erst jetzt, dass er sie immer noch festhielt.
»Nun, wird die Patientin am Leben bleiben?«, fragte sie
Weitere Kostenlose Bücher