Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
dabei erwischt, wie ich jemand ohne die Erlaubnis des Pfarrers begrabe.«
»Ich frage nicht für mich.« Daniel zog einen versiegelten Brief aus der Tasche und reichte ihn dem jungen Mann, der ihn zögernd entgegennahm.
»Mir wurde gesagt, dass Sie lesen können.«
»Und wer hat Ihnen das gesagt?«
Daniel antwortete nicht.
Der junge Mann las den Brief. Seine Augen wurden weit. »Miss Charlotte … guter Gott. Miss Charlottes Kleines. Wir haben uns alle gefragt, was wohl aus ihr geworden ist. Der Pfarrer erwähnt nicht mal mehr ihren Namen.«
»Deshalb sollte auch niemand hiervon erfahren.«
»Ich werde es mit ins Grab nehmen … oh, tut mir leid. Kommt vom Beruf.«
Daniel wollte dem jungen Mann ein paar zusammengefaltete Geldscheine zustecken, doch Digger winkte ab und wischte sich dann die Augen.
»Sagen Sie Miss Charlotte etwas von mir. Sagen Sie ihr, sie kann ruhig schlafen. Ben Higgins wird für ihr Kleines sorgen. War es ein Junge?«
Daniel nickte.
»Sagen Sie ihr, Ben Higgins wird auf den Kleinen aufpassen. Keine Sorge. Sagen Sie Miss Charlotte das von mir, machen Sie das?«
»Ja. Ich danke Ihnen. Ich werde es ihr ganz bestimmt sagen.«
Meine liebe Tante,
ich weiß, dass ich dir nicht schreiben sollte, aber ich muss es einfach tun. Du warst so lange meine engste Vertraute. Da man dich aufgefordert hat, mir nicht zu schreiben, erwarte ich keine Antwort. Trotzdem muss ich es dir sagen. Ich muss diese schreckliche Last mit jemandem teilen oder ich werde verrückt.
Mein Kind ist fort … es ist für mich verloren. Aber ich bin es, die sich verloren fühlt. Der Schmerz, die Selbstvorwürfe drücken mich so sehr, dass ich kaum mehr atmen kann. Ich halte es nicht mehr aus. Ich muss hier fort. An diesem schrecklichen Ort ist der Verlust zu schwer für mich. Die Seidenblumensamen sind aufgebrochen, die weichen weißen Daunen fliegen davon. Nur leere Hüllen und trockene Stängel bleiben zurück.
Ich muss so schnell wie möglich von hier fort, an den Ort, den du mir vorgeschlagen hast. Aber kann ich dich vielleicht dazu bewegen, mich noch ein einziges Mal zu besuchen, bevor ich abreise? Ich habe den Trost und den Rat, den nur du mir geben kannst, so bitter nötig.
Doch nein, ich möchte nicht, dass du den Zorn meines Vaters riskierst. Hat er nicht gedroht, dich zusammen mit mir aus der Familie zu verstoßen? Es genügt, wenn eine von uns ausgestoßen ist …
Daniel fiel auf, dass die Tür zu Charlottes Zimmer weit offen stand. Er spähte hinein und sah, dass sie an dem kleinen Tisch in der Ecke saß und hastig schrieb. Sie legte die Feder dazwischen nur lange genug hin, um die Tränen abzuwischen, die ihr über die Wangen liefen, dann nahm sie sie wieder auf und tauchte sie erneut in die Tinte. Eigentlich war er überrascht zu sehen, dass sie aufgestanden war. Als er sie am Vortag zuletzt gesehen hatte, wirkte sie wie gelähmt und schien an nichts anderes als an ihren Kummer denken zu können. Sie erinnerte ihn schmerzlich an seine liebe Lizette. Der Gedanke, dass Charlotte in eine ähnliche Stimmung versinken könnte, bereitete ihm fast körperliche Pein. Er fragte sich, an wen sie wohl schrieb. Hatte sie ihre Meinung schon geändert – schrieb sie an Charles Harris?
Plötzlich ließ Charlotte die Feder fallen und saß ganz still da. Er wollte sich schon bemerkbar machen und sie ansprechen, als sie plötzlich das Blatt, das vor ihr lag, nahm und mit einer hastigen Bewegung zusammenknüllte. Ihr Gesichtsausdruck war völlig leer. Dann legte sie den Kopf auf die Arme und wurde von Schluchzern überwältigt, die ihren ganzen Körper schüttelten. Wie gern wäre er zu ihr hineingegangen und hätte sie getröstet, doch er wusste, dass das nicht nur unschicklich, sondern auch völlig sinnlos gewesen wäre. Kein Mensch konnte einen so furchtbaren Schmerz lindern. Das konnten nur die Zeit und Gott. Dennoch wünschte er, dass er etwas tun könnte.
In diesem Augenblick trat die hochgewachsene Amme, Sally Mitchell, in den Flur. Er winkte sie zu sich und wies mit dem Kopf zu Charlottes Zimmer. Sally folgte seinem Blick. Sie schenkte ihm ein grimmiges Lächeln und ging dann hinein.
»Aber, aber, mein Liebes …«, hörte er sie murmeln.
In diesem Augenblick beschloss Daniel, sollte er jemals Gelegenheit haben, Sally Mitchell etwas Gutes zu tun, dann würde er sie nützen.
Charlotte hatte sich am Abend in den Schlaf geweint, doch plötzlich schreckte sie hoch. Sie hatte Schreie gehört. Sie kamen von
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