Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
leicht ihre Röcke an und trat mit einem großen Schritt über die niedrige Backsteinmauer auf den Rasen. Dann ging sie ein paar Schritte näher an die Hauswand heran und blieb kurz stehen. Sie blickte erst nach oben, dann nach links und rechts. Es war, als zeigten sich in der Fassade lauter bewegte Bilder in goldenen Rahmen. Das Licht fiel bis fast auf die Stelle, an der sie stehen geblieben war, aber sie trat nicht in den Lichtschein. Sie blieb einfach stehen und schaute nur.
In einem Fenster sah man tanzende Paare, wirbelnde Ballroben in leuchtenden Farben, schwarz-weiß gekleidete Männer, die auf Damen hinunterlächelten, deren Wangen vor Vergnügen glühten. In einem anderen Fenster standen Leute beisammen, tranken Tee oder Punsch, unterhielten sich und lachten, als hätten sie keine anderen Sorgen auf der Welt als die Qualität der Musik, den Geschmack des Tees oder die Quantität der Rosinenbrötchen.
Charlottes Blickwinkel war zwar eingeschränkt, aber sie war trotzdem erleichtert, dass sie niemanden sah, den sie kannte. Kein Anzeichen von Bea oder William, Charles oder Katherine – wobei Katherine, die zweifellos ihre vorgeschriebene Erholungszeit einhielt, sicherlich noch keine derartigen Veranstaltungen besuchte. Doch plötzlich hielt sie den Atem an. Sie hatte Theo Wolger und Kitty Wells erspäht. Kitty war eine gute Freundin von ihr gewesen und Theo hatte es früher nie versäumt, Charlotte zum Tanz aufzufordern. Jetzt tanzten die beiden ohne sie und sie stand draußen, für immer von ihnen getrennt, durch eine gläserne Wand, durch die gesellschaftliche Realität.
»Charlotte …«, begann Daniel.
»Gehen wir«, sagte sie, drehte sich abrupt um und lief an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen.
Ein Paar kam Arm in Arm die Straße herauf. Der Mann grüßte sie. »Ist das nicht Charlotte Lamb?«
Charlotte sah auf. Es war William Bentley mit einem Mädchen, das sie nicht kannte. Mr Bentley lächelte breit. Er war überrascht und ganz offensichtlich leicht angetrunken.
»Es ist wahrhaftig Charlotte Lamb und sie sieht aus wie … immer. Ich dachte …«
»Sie haben falsch gedacht.« Dr. Taylor klang brüsk. Er nahm behutsam Charlottes Arm und führte sie über die Straße. Sie warf noch einen verstohlenen Blick über die Schulter zurück.
»Sie wollen doch nicht schon gehen? Ich habe doch noch gar nicht mit Ihnen getanzt …« Bentley stolperte und das Mädchen griff stützend nach seinen Arm. »Allerdings bin ich im Moment etwas unsicher auf den Beinen.«
Das Mädchen hinter ihnen lachte. »Du wirst heute Abend eine Gefahr auf dem Parkett sein, so viel ist sicher.«
Er musste wirklich sehr betrunken sein, da ihm nicht auffiel, dass weder Charlotte noch ihr Begleiter für ein Diner, geschweige denn für einen Ball gekleidet waren.
Als er Charlotte wieder in die Kutsche geholfen hatte und das Pferd die schwach beleuchtete Straße hinunter lenkte, erinnerte Daniel sich an das letzte Mal, dass er William Bentley gesehen hatte.
Es war vor über drei Jahren gewesen, auf einem Ball in Sharsted Court in Doddington. Daniel hatte schüchtern in einer Tür gestanden und Tee getrunken, als zwei junge Damen vorübergingen. Er glaubte, seinen Namen zu hören, und trat hastig in den Schatten zurück in der Hoffnung, auf diese Weise einer allzu krassen Demütigung zu entgehen.
»Ich verstehe nicht, wieso er hier ist«, sagte Beatrice Lamb mit verächtlich verzogenen Lippen. »Ein Knochenflicker auf einem Ball – abscheulich! Was haben unsere Gastgeber sich nur dabei gedacht?«
»Der Mann ist kein einfacher Feldscher oder so was, Beatrice«, meinte ihre Freundin beschwichtigend, »er ist ein richtiger Arzt oder will es zumindest werden.«
»Trotzdem weckt sein Anblick düstere Gedanken in einem.«
»Er hat ihren kleinen Neffen behandelt, mit – glaube ich – sehr zufriedenstellendem Ergebnis.«
»Nun gut, dann drückt man ihm eine Guinee extra in die Hand und schickt ihn nach Hause, aber man steckt ihn nicht in einen Frack und erwartet, dass ich mit ihm tanze. Stell dir doch nur vor, was er mit seinen Händen alles anfasst!«
Die beiden Mädchen verschwanden und Daniel trat wieder vor. Er war tödlich verlegen und wollte gerade seinen Mantel holen und gehen, als er eine sehr viel angenehmere Stimme hörte.
»Mr Taylor! Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen.«
Er wandte sich um und sah in das ihm höchst willkommene Gesicht von Charlotte Lamb. »Ja. Ich werde nicht oft zu solchen Veranstaltungen
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