Die Lagune Der Flamingos
lassen und würde keine unnötigen Geräusche machen müssen, wenn er es als Fluchtweg nutzte. Der Nachteil war allerdings, dass sich sein Zimmer nicht im Erdgeschoss befand.
John spähte hinaus. Er war nie ein Freund großer Höhen gewesen, aber wenn er die Gefahr, hinunterzuspringen, gegen die ungebetener Besucher abwog, so erschien sie ihm doch die geringere zu sein.
Er beugte sich etwas vor und versuchte, in der fast vollkommenen Dunkelheit so gut wie möglich zu berechnen, wie er am klügsten vorgehen könnte. Früher hatte eine reiche Familie in diesem Haus gelebt. Es gab ein schmales Sims direkt unter seinem Fenster, Ziersäulen, eine Regenrinne, die weiter unten in einem Löwenmaul endete.
Leise schwang John die Beine aus dem Fenster – jetzt zahlte sich aus, dass er seit Neuestem immer voll bekleidet schlief. Er stellte die Füße auf das Sims und tastete sich zur Regenrinne vor. Wenn er den Arm ausstreckte, würde er sie zu fassen bekommen.
Lass los.
Er schluckte. Vielleicht hatte er im falschen Moment einen Blick nach unten geworfen, denn plötzlich konnte er sich nicht mehr rühren.
Du musst zur Regenrinne, los, beweg dich!
John spürte ein Zittern, gegen das er kaum noch ankämpfen konnte. Im selben Augenblick hörte er, wie die Tür zu seinem Zimmer mit einem kräftigen Stoß aufgebrochen wurde. Er griff nach der Regenrinne, brachte den letzten Abschnitt hinter sich und begann eilig hinabzuklettern.
Aus dem Zimmer waren Stimmen zu hören. John hatte bereits ein Stockwerk hinter sich gebracht, als er vorsichtig hochsah. Oben in seinem Fenster erschien ein Kopf. Im nächsten Moment pfiff ein Schuss an ihm vorbei. Er kletterte schneller, hörte einen Mann fluchen, und gleich fiel ein zweiter Schuss. John spürte ein Brennen in seinem Arm, auf das ein entsetzlicher Schmerz folgte. Dann verlor er den Halt.
Anna saß wie so oft noch spät an diesem Abend in ihrem Büro und horchte. Von draußen, von außerhalb des Hofs, drangen gedämpft die Laute der Stadt zu ihr herein. Irgendwo hatte eben noch jemand gesungen, dann war es stiller geworden. Die Menschen zogen sich hinter die Mauern ihrer Wohnhäuser zurück, um den Abend in der Familie zu verbringen. Auch Anna warf die Feder zur Seite.
Jetzt nur noch schnell draußen und in den Ställen nach dem Rechten sehen.
Anna zündete eine Laterne an, verließ ihr Büro und hatte gerade die Mitte des Hofes erreicht, als sie innehielt. Was war das eben für ein seltsames Geräusch gewesen? Es hatte sich wie ein Stöhnen angehört. Das Geräusch kam aus der Nähe des immer noch offen stehenden Tors. Ja, da war jemand … So spät noch? Aber sie hatte die Glocke gar nicht gehört.
Mit entschlossenen Schritten ging Anna näher zum Hoftor und blickte hinaus, doch da war niemand. Vielleicht hatte sie sich doch geirrt, dennoch ermahnte sie sich, vorsichtiger zu sein.
Ich bin allein. Vielleicht ist wirklich jemand da draußen, und wer weiß, wer es ist. Ich sollte besser Hilfe holen.
Anna hielt die Laterne in ihrer Hand höher, um besser sehen zu können. Wieder dieses Stöhnen …
Und dann bemerkte sie eine zusammengekauerte Gestalt, die da neben dem Tor auf dem Boden hockte.
Ein Mann.
Mit einem erneuten Stöhnen sank der nun ganz in sich zusammen und lag dann ganz still.
»Ach, du meine Güte!«
Anna vergaß alle Vorsicht. Mit kräftiger Stimme rief sie einen der Stallknechte herbei, der gleich zwei weitere mitbrachte, die sich ebenfalls noch im Stall nützlich gemacht hatten.
»Wir haben hier einen Verletzten. Helft mir, wir legen ihn dort auf den Tisch.«
Der breite Holztisch stand immer im Hof für die verschiedenen Feste, die im Unternehmen Meyer-Weinbrenner gefeiert wurden. Einen Moment später hatten sie den Verletzten daraufgelegt.
Die Kleidung des Mannes war abgenutzt und schmutzig. Auf Höhe des rechten Oberarmes war der Ärmel seines Rockes zerfetzt und wies Spuren eingetrockneten Blutes auf. Er hatte dunkles, halblanges strähniges Haar. Sein Gesicht war schmal, grau und etwas eingefallen und von einer dünnen Schweißschicht überdeckt. Er zitterte. Wahrscheinlich hatte er auch Schmerzen.
Anna hob die Lampe – und hätte sie beinahe fallen lassen. Das war doch John Hofer. Der Mann, der ihre Tochter im Stich gelassen hatte.
Anna spürte plötzlich heftige Abneigung. Dieser Mann hatte sich weder um Marlena noch seine beiden Kinder ordentlich gekümmert. Nein, sie konnte nicht sagen, dass ihr das nichts ausmachte, auch wenn sie nach außen
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