Die Lagune Der Flamingos
sich wieder. Eine Else Pfister betrieb seit 1865 eine höhere Mädchenschule mit angeschlossenem Internat in der Calle Piedras, die auch Marlena nach dem Sommer besuchen sollte. Was, wenn Estella …?
»Verflixt«, entfuhr es ihr.
Estella schaute irritiert auf. »Mama, was hast du?«
Auch Paco sah seine Mutter fragend an. Doch Viktoria kam nicht dazu, den beiden zu antworten. Draußen war mit einem Mal aufgeregtes Stimmengewirr zu hören, kurz darauf angstvolles Geschrei.
»Feuer«, rief jemand, »Feuer! Es brennt!«
Ohne einen Moment zu überlegen, stürzte Viktoria nach draußen, folgte im Hof Knechten und Mägden, die alle in die gleiche Richtung rannten. Wenig später hatten sie das Ziel erreicht. Die alte Mühle brannte. Dicke Rauchschwaden lagen bereits über dem Gebäude. Flammen schlugen meterhoch aus dem Dach. Die Menschen, die sich vor dem Gebäude versammelt hatten, schrien wild durcheinander. Doch noch ein anderes Geräusch lag in der Luft, ein angstvolles Blöken, das Viktoria schier das Herz zerreißen wollte. Offenbar waren einige Schafe in der Mühle eingesperrt. Sie konnte ihre hellen Felle durch die Spalten in der Holzwand sehen. Voller Panik versuchten die Tiere, nach draußen zu drängen, doch es wollte ihnen nicht gelingen. Der Fluchtweg war versperrt. Sie würden elend verbrennen und ersticken. Viktoria schossen die Tränen in die Augen. Im nächsten Moment spürte sie, wie sich ihre Kinder an sie drückten.
»Mama, Mama«, rief Paco, »wer hat das getan?«
Viktoria presste die Lippen aufeinander. Ihr Sohn verstand sofort, dass das Feuer nicht auf natürliche Weise ausgebrochen war. Die eben noch im Entsetzen gefangene Menge vor der Scheune begann sich jetzt zu organisieren, dann waren auch schon Pedros und Jonás Vasquez’ entschlossene Stimmen zu hören: »Los, los, los, Wasser marsch.«
In erstaunlich kurzer Zeit bildete sich eine Eimerkette. Bald wurde der erste Schwung Wasser in die Flammen geschüttet, doch kaum eine Wirkung zeigte sich. Das Feuer hatte sich wohl bereits zu sehr ausgebreitet, die Mühle und die Tiere waren verloren. Während Estella starr vor Schreck bei Viktoria stehen blieb, riss sich Paco bald los und rannte zu seinem Vater. Dann brach die Hölle los.
Viktoria verstand erst, dass geschossen wurde, als ein Knecht getroffen vor ihren Augen zusammenbrach. Mit einem Aufschrei riss sie im nächsten Moment Estella zu Boden und warf sich über ihre Tochter. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie einige schwarz vermummte Gestalten ihre Pferde johlend im Kreis galoppierend um die Menschenmenge herumtrieben, immer wieder fielen Schüsse. Entsetzte Schreie zerrissen die Luft. Kreischend suchten die Menschen zu fliehen, stießen panisch gegeneinander. Etliche stolperten und gingen zu Boden. Sie versuchten, eilig wegzukriechen, wurden aber von anderen Fliehenden überrannt. Entsetzt sah Viktoria, wie eine der schwarz vermummten Gestalten Juanita, eines ihrer Dienstmädchen, an ihrem langen Zopf mit sich riss.
Voller Sorge suchten ihre Augen Paco. Er war offenbar von seinem Vater getrennt worden. Viktoria sah ihn, vom roten Feuerschein der lichterloh brennenden Mühle beschienen, weinend und die Augen vor Angst aufgerissen, mitten auf dem Platz stehen. Einer der schwarz gekleideten Angreifer hielt eben auf ihn zu. Von der anderen Seite rannten Pedro und Jonás Vasquez herbei. Viktoria wollte schreien, doch sie brachte keinen Ton heraus. Im nächsten Moment verdeckte ihr das Pferd des Angreifers die Sicht. Dann knallte ein Schuss, und Paco stürzte zu Boden. Mit einem gellenden Schrei brach Viktoria zusammen. Dann war alles um sie herum dunkel.
Wieder und wieder spielte sich die furchtbare Szene in Viktorias Kopf ab. Sie lag wie erstarrt neben ihren beiden Kindern auf dem Bett, roch den Rauch in ihren Haaren und an ihrer Haut, hörte das leise Schluchzen ihres Sohnes, wusste, dass ihre Tochter wie sie stumm vor Fassungslosigkeit war. Einige schreckliche Momente lang hatte sie geglaubt, Paco sei tot. Doch Paco hatte sich kurz vor dem Schuss fallen lassen, vor dem Schuss, der Jonás Vasquez das Leben gekostet hatte.
Wir müssen doch fort, dachte Viktoria, jetzt sind sie zu weit gegangen. Sie werden uns hier nicht leben lassen. Heute haben sie begonnen zu töten, und sie werden es wieder tun. Jetzt sind alle Schranken gefallen.
Für einen Moment presste sich Viktoria eine Faust gegen die Stirn. Sie war eine Gefahr für die Menschen, die sie liebte und für die, die auf der
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