Die Lagune Der Flamingos
zittern, »ist niemand, der sich einfach etwas wegnehmen lässt, ob er es nun braucht oder nicht. Deshalb müssen wir vorsichtig sein. Deshalb verstecken wir uns. Und das Zweitwichtigste für uns ist, unsere Schulden zu bezahlen, damit man dich und mich nicht mehr zu Dingen zwingen kann, die … die wir nicht …« Annelie holte tief Luft. »Und dann fahren wir nach Deutschland zurück und …«
»Ach ja?« Mina blickte nun doch auf. »Meinst du, die hier lassen uns so einfach gehen? Wenn wir in diesem Leben noch unsere Schulden bezahlen wollen, muss sich schnell etwas ändern, das weißt du genauso gut wie ich, oder willst du weiter in der pulpería arbeiten und dich betatschen lassen oder Schlimmeres, bis du tot umfällst? Wir werden nie wieder frei sein, wenn wir die Sache nicht selbst in die Hand nehmen, Mama, und ich spüre eben, dass Señor Brunner uns helfen …«
Mina richtete den Blick wieder auf das löchrige Unterkleid. Sie waren glücklich vor Xaver und Philipp geflohen und doch vom Regen in die Traufe gekommen. Zuerst waren sie Aurelio Alonso ausgeliefert gewesen, dann hatte der sie an den Zuhälter Felipe Arista verkauft. In Rosario war Mina noch durch sein gutes Aussehen und seine feinen Manieren geblendet gewesen. In Buenos Aires hatte sie bald verstanden, dass sie Arista das Geld niemals würden zurückzahlen können, wenn nicht ein Wunder geschah. Als sie das erste Mal in Verzug geraten waren – Annelie hatte im Sommer mit einem schweren Fieber zu kämpfen gehabt -, hatte das sofort Folgen.
Ein Schauder lief Mina über den Rücken, als sie an den ersten Freier dachte, den sie hatte empfangen müssen. Ob sie sich immer so schmutzig fühlen würde, oder ob dieses Gefühl irgendwann nachließ? In den ersten Wochen und Monaten hatte sie sich verboten, an Frank zu denken, und auch heute noch versuchte sie, den Gedanken an ihn zu vermeiden. Bis jetzt hatte sie sich nicht überwinden können, zur Plaza zu gehen, so elend und schmutzig fühlte sie sich. Wie sollte sie Frank überhaupt je wieder gegenübertreten? Das Mädchen, das er zurückgelassen hatte, gab es nicht mehr. Wie es ihm wohl ging? Sie hoffte so sehr, dass es ihm gut ging. Vielleicht hatte er sogar schon geheiratet … Der Gedanke trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie war froh, dass sich Annelie abgewandt hatte, aber Annelies schmaler Rücken rührte sie plötzlich.
Sie und ihre Mutter hatten schwere Zeiten erlebt, aber sie hatten doch nur einander. Mina legte die Flickarbeit zur Seite, stand auf und umarmte Annelie entschlossen.
»Ich will, dass wir hier rauskommen, Mama. Ich will, dass wir unser Glück finden, und ich glaube, ich weiß jetzt, wie uns das gelingen kann.«
»Ach, Mina, kleine Träumerin«, Annelie strich ihrer Tochter das Haar aus dem erhitzten Gesicht, »wie soll das gehen?«
»Vertrau mir, vertrau mir einfach.«
Als Eduard sich spät an diesem Abend auskleidete, um zu Bett zu gehen, bemerkte er ein leises Knistern in seiner rechten Rocktasche. Er schob seine Hand hinein, zog einen sorgsam gefalteten Zettel hervor. Wie war er dort hingekommen? Wer hatte ihn dort hineingesteckt? Unwillkürlich hob er das Stück Papier an die Nase: Monica … Das war ihr Duft. Wann hatte sie den Zettel in seine Tasche gesteckt? Als er geschlafen hatte? Nun, das sollte ihm vorerst gleich sein. Wichtig war, zu lesen, was darauf stand, wenn sie es für nötig gehalten hatte, ihm diesen Zettel zuzustecken.
Eduard drehte die Öllampe noch einmal heller und las Monicas in feinen Buchstaben geschriebene Botschaft: Elias, Recoleta .
Ja, aber er wusste doch, dass Elias in Recoleta begraben worden war. Was wollte sie ihm damit nur sagen?
Viertes Kapitel
Marlena hatte nie die gleiche Begeisterung für das Fuhrgeschäft aufbringen können wie ihre Mutter, und sie wusste, dass Anna darüber enttäuscht war. Den Gedanken, Nachmittage lang eingesperrt über den Büchern zu verbringen, anstatt die Stadt, am besten noch die ganze Welt zu erkunden, fand Marlena jedoch abscheulich. Sie liebte es, wenn Julius von seinen Geschäftsreisen erzählte, verschlang Berichte über Expeditionen in ferne, kaum bereiste Länder und malte sich aus, es den mutigen Entdeckern eines Tages gleichzutun. Durch ihre Lektüre wusste sie, dass es sogar Frauen gab, die die Welt allein bereisten, teils heimlich, in Männerkleidern, teils ganz offen. Marlena hatte Alexander von Humboldts Berichte verschlungen und Mary Wortley Montagues Erzählungen über ihr Leben im
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