Die Lagune Der Flamingos
osmanischen Reich gelesen, sie las Friedrich Gerstäcker, Isabella Bishop und Ida Pfeiffer und viele mehr.
Auch nach Argentinien kamen solche Reisenden, sie stiegen zumeist im Hotel du Nord in Buenos Aires ab. Manche von ihnen waren ausgestattet, als wäre das ganze Land ein einziger Dschungel – dabei war Buenos Aires doch eine fast europäische anmutende Stadt. Aber einige dieser Abenteurer und Abenteurerinnen verließen die Stadt ja auch. Sie bereisten die Urwälder von Misiones, den wilden Chaco, oder sie bestiegen den Aconcagua, der als höchster Berg außerhalb Asiens galt.
Im letzten Schuljahr war Marlena wieder einmal der Gedanke gekommen, ebenfalls durch die Welt zu reisen. Sie hatte schon einmal darüber nachgedacht, damals, als sie aus Deutschland zurückgekommen waren. Danach wollte sie ein Buch über ihre Erfahrungen schreiben, später Journalistin werden. Bisher wusste allerdings nur ihre Freundin Estella von ihren Plänen.
Draußen im Gang waren plötzlich Schritte zu hören. Marlena kannte den energischen Rhythmus nur zu gut. Mama. Und ganz offensichtlich hatte sie etwas zu besprechen. Im nächsten Moment klopfte es auch schon. Marlena schob die Wegbeschreibung, die sie studiert hatte, unter einen Stapel Mathematikaufgaben und hob den Kopf.
»Herein!«
Die Tür öffnete sich. Anna trat ein. Sie war dezent, aber elegant und in gedeckten Farben gekleidet, sicher ein Modell von Tante Lenchen.
Früher, dachte Marlena, hat Mama weniger Wert auf Kleidung gelegt. Auch heute war noch nicht von höchster Priorität, was Anna trug, aber als Geschäftsfrau wusste sie, dass es durchaus zuträglich war, sich gut zu kleiden. Sie kam jetzt näher heran, warf einen kritischen Blick auf Marlenas Schreibtisch.
»Mathematik?«
»Ja, die Schule fängt bald wieder an.«
Anna runzelte die Stirn. Marlena konnte ihre Mutter nicht ansehen. Sie hatte Anna immer nur schwer anlügen können.
Allerdings lüge ich ja nicht direkt, überlegte sie dann, ich lasse nur etwas weg. Die Schule fängt ja tatsächlich bald wieder an, und ich sollte mich mit Mathematik beschäftigen. Hoffentlich bemerkt Mama nicht, dass ich noch keine Aufgabe gelöst habe.
Vorsichtshalber legte Marlena eine Hand auf den Stapel Aufgaben. Aber Anna schenkte dem Schreibtisch schon gar keine Beachtung mehr. Aus den Augenwinkeln beobachtete Marlena, dass ihre Mutter sich nachdenklich umblickte.
»Darf ich mich setzen?«, fragte sie dann.
Marlena nickte verblüfft. Anna nahm sich tagsüber sonst selten Zeit, mit ihr zu sprechen. Meist war sie im Büro ihres Unternehmens.
Mutter und Tochter saßen sich eine Weile schweigend gegenüber.
»Du bist jetzt alt genug«, sagte Anna schließlich, »hast du dir eigentlich schon einmal Gedanken darum gemacht, wie dein späteres Leben aussehen soll?«
O ja, fuhr es Marlena durch den Kopf, aber dir kann ich es nicht sagen und Julius auch nicht. Dabei beneideten sie in der Schule alle um ihre Eltern – um ihre Mutter, die so anders war als andere Mütter und so viel erreicht hatte, um Julius, der ihr ein liebevoller Stiefvater war. Trotzdem schaffte sie es einfach nicht zu sagen, was sie wirklich interessierte und was sie einmal tun wollte, aus Angst, sie könnten genauso glockenhell darüber lachen wie Estella.
»Und?« Anna schaute sie forschend an.
Marlena wich dem Blick ihrer Mutter aus. »Hm, schon …«
»Könntest du dir denn vorstellen, mir ab jetzt am Wochenende ab und zu im Büro zu helfen?«, fuhr Anna dazwischen.
O Gott, nein, dachte Marlena, doch sie nickte. Nur keine Aufmerksamkeit erregen. Der Ärger würde noch früh genug kommen.
»He, hier herüber!«
Jenny hatte den Arm gehoben und winkte Marlena zu. Die beeilte sich, an die Seite der jungen Frau zu kommen. Seit sie wusste, dass Jenny und ihre Mutter Rahel sich tagtäglich in den sündigsten Pfuhl der Stadt begaben, um Prostituierten eine Hilfe zu sein, hatte Marlena sie schon mehr als einmal begleiten wollen. Vielleicht würden diese Erlebnisse den Hintergrund zu ihrer ersten Reportage bilden, auch wenn sie noch nicht wusste, wer ihren Bericht drucken sollte. La Prensa und La Nación waren die wichtigsten Zeitungen der Stadt, aber druckten die auch Artikel von Frauen? Außerdem gab es natürlich noch die in der deutschen Kolonie viel gelesene, täglich erscheinende Deutsche La Plata Zeitung. Mehr Zeitungen kannte Marlena nicht.
Marlena atmete tief durch, als sie jetzt neben Jenny stand. Die junge Frau war fast zehn Jahre älter als
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