Die Lagune Der Flamingos
nennen?«
»Goldstück«, hatte Estella, ohne zu zögern, ausgerufen. »Oh, Mama, sie ist wunderhübsch.«
Goldstück hatte sie sofort angestupst, um Leckereien zu erbetteln, und hatte einen Apfel erhalten. Estella war ganz warm ums Herz geworden. Seitdem trug sie immer etwas für Goldstück bei sich.
Estella zog ihr grünes Reitkostüm an, das mit dunklen Lederlitzen verziert war. Ihr heutiges Ziel war eine Anhöhe, von der aus man einen sehr guten Blick in die Ebene hatte. In den letzten Tagen war sie öfter hier gewesen, denn auch wenn sie der hübsche bunte Schmetterling war, der sein Umfeld bezauberte, gab es doch immer viel nachzudenken.
Als sie Goldstück auf eine ihr gut bekannte Lichtung im Lorbeerwald lenkte, stellte sie jedoch missmutig fest, dass sie nicht allein war. Ausgerechnet ihr jüngerer Bruder Paco hatte es sich auf einem umgestürzten Baum bequem gemacht. Wenige Schritte entfernt graste sein Pferd, ein eher kleines, drahtiges, scheckiges Tier, dem Estella in bösen Stunden Ähnlichkeit mit einer Kuh zuschrieb. Paco bestand darauf, dann sehe es doch eher einem der zähen kleinen Stiere ähnlich, die früher über die Pampa gezogen seien.
»Was machst du denn hier?«, fuhr Estella Paco ohne Umschweife an, der, obwohl er sie gewiss gehört hatte, tat, als bemerke er sie erst jetzt.
»Estella! Wie schön, dich zu sehen.«
»Paco!«
Als er aufstand, fiel ihr erstmals auf, wie groß er geworden war. Er überragte Estella bereits um einen halben Kopf. Vor ihrer letzten Abreise hatte sie einen kleinen Jungen zurückgelassen, nun konnte man schon den Mann erkennen, der er später einmal werden würde.
Er sieht seinem Vater sehr ähnlich, dachte sie.
Waren seine Gesichtszüge in der Kindheit noch weicher gewesen, trat jetzt deutlicher Pedros indianisches Erbe hervor. Pacos Nase war leicht gebogen. Die Augen ebenso wie die Haare waren tiefschwarz. Letztere trug er inzwischen länger und hatte sie im Nacken mit einem Lederband zusammengebunden. Er trug Lederhosen und ein schlichtes Hemd. Seine Schuhe steckten in einfachen Sandalen. Mit einem kurzen Blick auf sein Pferd stellte sie fest, dass er auch heute ohne Sattel unterwegs war.
»Willst du dir nicht einmal ein vernünftiges Pferd zulegen?«, fragte sie.
Paco grinste. »Mein Stier leistet mir gute Dienste«, antwortete er.
Estella blickte sich um. »Und wo ist Fabio?«
Marias Sohn begleitete sie manchmal, wenn sie in den Ferien nach Tres Lomas fuhr.
»Er ist heute mit Pedro unterwegs. Er wollte sich eine Zuckermühle ansehen. Er ist doch an allem Mechanischen interessiert.« Dann schwieg er, um einen Moment später zu fragen: »Und was machst du hier so allein? Ich hab dich schon gestern hierher reiten sehen. Suchst du die Einsamkeit? Sind es der Bewunderer zu viele geworden?«
»Bist du mir gefolgt?«
Vorwurfsvoll blitzte Estella Paco an. Von ihrem kleinen Bruder beobachtet zu werden fehlte ihr gerade noch. Im nächsten Augenblick aber berichtigte sie sich schon wieder: Er ist nicht mehr mein kleiner Bruder. Er ist ein Bursche, der bald vollends zum Mann reifen wird, groß gewachsen, schlank, mit festen Muskeln und gar nicht mal schlecht aussehend. Kurz überlegte sie, ob er sich wohl schon für Mädchen interessierte oder die sich für ihn. Dann brachte sie sich wieder zur Räson. Paco war erst vierzehn Jahre alt, er war sicherlich noch etwas jung für so etwas.
Um nur irgendetwas zu sagen, bemerkte sie: »Bindest du dein Pferd nie fest? Was, wenn es davonläuft?«
»Dann müsste ich wohl zu Fuß nach Hause gehen.« Er grinste.
Zum ersten Mal seit Tagen musste Estella lachen.
»Aber es läuft nicht davon«, fügte Paco hinzu und zwinkerte seiner Schwester zu. »Schön, dich wieder einmal lachen zu hören.«
»Ja«, antwortete Estella.
Plötzlich wusste sie, dass sie immer mit ihrem Bruder reden konnte. Sie hatten sich eigentlich immer gut verstanden.
»Setzen wir uns?«, fragte sie ihn also.
Er zuckte die Achseln. Einen Moment lang saßen sie schweigend nebeneinander.
»Wie läuft es mit der Schule?«
»Mama hat gerade einen neuen Hauslehrer angestellt.«
»Was ist mit dem anderen geschehen?«
»Dem behagte das Klima hier nicht, und mir behagten seine Ansichten nicht.«
»Als da wären?«
»Er sagte, der, der das Land nicht urbar mache, der es also nicht nutze, sondern Gottes Geschenk verkommen lasse, habe kein Recht darauf. Als ich ihm sagte, dass das nicht stimme und die Indios das Land sehr wohl nutzten, wollte er mich
Weitere Kostenlose Bücher